Düsseldorf/Duisburg, 21. November 2017 - "Klugscheißer
mag niemand, aber ...
... wir wussten es halt schon immer besser!“, so Michele
Marsching, ehemaliger Fraktionsvorsitzender und Vertreter
der PIRATEN im Organstreitverfahren. „Zumindest was die
Sperrklausel angeht. Sie ist undemokratisch, sie
schließt Bürger aus, sie ist vor allem verfassungswidrig -
und jetzt ist sie abermals weg!"
Der
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen hat
heute die vom nordrhein-westfälischen Landtag 2016 mit
großer rot-schwarz-grüner Mehrheit beschlossene kommunale
Sperrklausel von 2,5 % gekippt. Allein die
nordrhein-westfälische Piratenpartei hatte seinerzeit gegen
das sogenannte Kommunalvertretungsstärkungsgesetz gestimmt.
Dennis Deutschkämer, Landesvorsitzender der PIRATEN NRW,
ergänzt: „Sperrklauseln sind keine Garantie für stabile
Regierungen. Kleine Parteien stören den Politikbetrieb
nicht, sondern bereichern ihn. Ich bin froh, dass das
Gericht unserem Antrag gefolgt ist und wir so den weiteren
Abbau demokratischer Grundsätze und politischer Beteiligung
verhindern konnten.“
Wieder einmal musste ein
Gericht bemüht werden, um der Bequemlichkeitspolitik Einhalt
zu gebieten.
Münster/Duisburg, 21. November 2017 -
Der Verfassungsgerichtshof für das Land
Nordrhein-Westfalen in Münster hat heute
entschieden, dass die 2,5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen
gegen den Grundsatz der Wahlrechtsgleichheit verstößt,
soweit sie für die Wahlen der Gemeinderäte und Kreistage
gilt. Demgegenüber stehe die Sperrklausel im Einklang mit
der Landesverfassung, soweit die Wahlen der
Bezirksvertretungen und der Verbandsversammlung des
Regionalverbandes Ruhr betroffen sind.
Sachverhalt Antragstellerinnen der
Organstreitverfahren sind die Landesverbände der NPD, der
Piratenpartei, der Partei DIE LINKE, der PARTEI, der ÖDP und
der Tierschutzpartei sowie die Bürgerbewegung PRO NRW und
die Partei Freie Bürger-Initiative/Freie Wähler.
Antragsgegner ist jeweils der Landtag, der durch das Gesetz
zur Änderung der Verfassung für das Land Nordrhein-Westfalen
und wahlrechtlicher Vorschriften
(Kommunalvertretungsstärkungsgesetz) vom 14. Juni 2016 eine
2,5 %-Sperrklausel bei Kommunalwahlen eingeführt hat.
Nach einer Entscheidung des Verfassungsgerichtshofs aus
dem Jahr 1999 war die damals im Kommunalwahlgesetz geregelte
5 %-Sperrklausel mit der Landesverfassung nicht vereinbar,
weil der Gesetzgeber ihre Erforderlichkeit nicht hinreichend
begründet hatte (Urteil vom 6. Juli 1999 – VerfGH 14/98,
15/98 –). Die nunmehr streitige 2,5 %-Sperrklausel wurde
unmittelbar in die Landesverfassung (Art. 78 Abs. 1 Satz 3)
eingefügt. Der Gesetzgeber hat die Regelung in erster
Linie damit begründet, Folge des Wegfalls der früheren
5 %-Sperrklausel sei eine zunehmende parteipolitische
Zersplitterung der Kommunalvertretungen, die die
Handlungsfähigkeit der Kommunalvertretungen beeinträchtige
oder zumindest in hohem Maße gefährde.
Wesentliche Erwägungen des Verfassungsgerichtshofs
In der mündlichen Urteilsbegründung führte die
Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs
Dr. Ricarda Brandts unter
anderem aus: Der Verfassungsgerichtshof habe die
verfassungsunmittelbare 2,5 %-Sperrklausel darauf zu
überprüfen, ob sie die in Art. 69 Abs. 1 Satz 2 der
Landesverfassung (LV) normierten Grenzen der Zulässigkeit
von Verfassungsänderungen wahre. Danach seien Änderungen der
Verfassung, die den Grundsätzen unter anderem des
demokratischen Rechtsstaates im Sinne des Grundgesetzes
widersprechen, unzulässig. Damit nehme die
Landesverfassung Bezug auf die sogenannten
Homogenitätsvorgaben in Art. 28 Abs. 1 Sätze 1 und 2 des
Grundgesetzes (GG). Zu diesen zwingenden Vorgaben für die
Ausgestaltung der verfassungsmäßigen Ordnung in den Ländern
gehöre der Grundsatz der Gleichheit der Wahl. Die
Sperrklausel bewirke eine Ungleichgewichtung der
Wählerstimmen hinsichtlich ihres Erfolgswertes, da Stimmen
für solche Parteien und Wählervereinigungen, die an der
2,5 %-Hürde scheiterten, ohne Einfluss auf die
Sitzverteilung blieben.
Für die Wahlen der
Gemeinderäte und Kreistage sei diese
Ungleichbehandlung nicht gerechtfertigt. Insoweit
ergäben sich aus Landesverfassung und Grundgesetz (Art. 69
Abs. 1 Satz 2 LV i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 2 GG) strenge
Anforderungen an differenzierende Regelungen. Diese
bedürften stets eines besonderen, sachlich legitimierten,
„zwingenden“ Grundes. Dazu gehöre zwar auch die
Sicherung der Funktionsfähigkeit der zu wählenden
Volksvertretung. Berufe sich der Gesetzgeber aber
zur Rechtfertigung einer Sperrklausel auf eine solche
anderenfalls drohende Funktionsunfähigkeit, müsse er für die
dann zu erstellende Prognose alle in rechtlicher und
tatsächlicher Hinsicht für die Einschätzung der
Erforderlichkeit einer Sperrklausel relevanten
Gesichtspunkte heranziehen und abwägen. Er dürfe sich nicht
mit einer abstrakten, schematischen Beurteilung begnügen.
Die Prognose müsse vielmehr nachvollziehbar begründet
und auf tatsächliche Entwicklungen gerichtet sein, deren
Eintritt der Gesetzgeber ohne die in Rede stehende
Wahlrechtsbestimmung konkret erwartet. Eine durch das
vermehrte Aufkommen kleiner Parteien und Wählervereinigungen
bedingte bloße Erschwerung der Meinungsbildung dürfe er
nicht mit einer Funktionsstörung oder Funktionsunfähigkeit
gleichsetzen. Diese bereits früher von der
Verfassungsrechtsprechung in Bezug auf einfachgesetzliche
Sperrklauseln formulierten Anforderungen würden auch für
eine unmittelbar in der Landesverfassung geregelte
Sperrklausel gelten. Ein spezifischer Spielraum des
landesverfassungsändernden Gesetzgebers für
Differenzierungen innerhalb der Wahlrechtsgleichheit bestehe
nicht.
Dass die 2,5 %-Sperrklausel zur
Sicherung der Funktionsfähigkeit der Gemeinderäte und
Kreistage erforderlich ist, sei weder im
Gesetzgebungsverfahren noch im Rahmen der
Organstreitverfahren in der gebotenen Weise deutlich gemacht
worden. Die gesetzgeberische Prognose sei weder in
tatsächlicher und rechtlicher Hinsicht vollständig noch sei
ihre Begründung in jeder Hinsicht nachvollziehbar. Die
Gesetzesbegründung erschöpfe sich im Wesentlichen in
abstrakten, schematischen Erwägungen zu möglichen
negativen Folgen einer Zersplitterung der
Kommunalvertretungen. Dass es nach Wegfall der früheren 5
%-Sperrklausel durch eine gestiegene Zahl von Kleingruppen
und Einzelmandatsträgern zu relevanten Funktionsstörungen
von Gemeinderäten und Kreistagen oder zumindest zu
Entwicklungen gekommen wäre, die Funktionsstörungen
möglicherweise zur Folge haben könnten, werde zwar
behauptet, nicht aber in nachvollziehbarer Weise anhand
konkreter empirischer Befunde belegt. Weniger strengen
verfassungsrechtlichen Anforderungen unterlägen
differenzierende Regelungen für die Wahlen der
Bezirksvertretungen und der Regionalversammlung Ruhr.
Insoweit beschränkten sich Landesverfassung und Grundgesetz
(Art. 69 Abs. 1 Satz 2 LV i. V. m. Art. 28 Abs. 1 Satz 1 GG)
auf die Gewährleistung des auch auf Ebene des Bundes
unabänderlichen Kerns des Demokratieprinzips. Dieser werde
durch die 2,5 %-Sperrklausel nicht berührt.
Aktenzeichen: VerfGH 9, 11, 15, 16, 17, 18, 21/16
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Duisburg, 15. September 2017 -
Der Landtag in Nordrhein-Westfalen
beschloss im Juni 2016 mit den Stimmen von SPD,
Grünen und CDU eine kommunale Sperrklausel von 2,5 %.
Die Piratenfraktion stimmte in der von ihr beantragten
namentlichen Abstimmung dagegen, die FDP enthielt sich.
Der Landesverband NRW der Piratenpartei reichte
daraufhin im Oktober 2016 eine Verfassungsbeschwerde ein.
Bereits 1999 hat das Landesverfassungsgericht NRW die
damalige Fünf-Prozent-Sperrklausel bei Kommunalwahlen
gekippt. Der Politikbetrieb in den kommunalen Parlamenten
hat nicht gezeigt, dass Kleinst- oder Splitterparteien die
Arbeitsfähigkeit der Räte behindern. Im Gegenteil: in vielen
Räten werde die Mitarbeit der Einzelvertreter und
Ratsgruppen sehr geschätzt.
„Erst die Beteiligung
neuer Parteien hat die Verkrustung in der Kommunalpolitik
aufgebrochen“, so Torsten Sommer, ehemaliger Abgeordneter
der Piratenfraktion NRW, Mitglied der Verfassungskommission
bis 2017 und Listenkandidat zur Bundestagswahl.
Michele Marsching, ehemaliger Fraktionsvorsitzender und
Vertreter der NRW PIRATEN im Organstreitverfahren ergänzt:
„Zudem hindern die kleinen Parteien die kommunalen Gremien
nicht an der Arbeit, sondern bringen Menschen neu in die
Politik. Abseits des Postengeschachers von SPD und CDU.“
„Besonders ärgert mich, dass die Grünen jetzt andere
ausschließen. Wer so schnell seine Wurzeln vergisst, muss
nicht nur vom Wähler, sondern auch vor Gericht abgestraft
werden. Wir werden uns weiter für die Demokratie
einsetzen!“, betont Dennis Deutschkämer, Landesvorsitzender
der PIRATEN NRW kämpferisch.
Die mündliche
Verhandlung zur eingereichten Klage findet am
24. Oktober 2017 um 10:30 Uhr am
Verfassungsgerichtshof des Landes Nordrhein-Westfalen in
Münster statt.
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