Duisburg, Juni 2015 - »Was ist das
denn? Das ist ja genau das, was ich suche.« Aufmerksam
studierte Bettina Böttburger die Annonce der Tageszeitung.
Unter dem Titel: Nix mit De mortuis nihil
nisi bene warb ein ganz spezieller Dienstleister mit
folgendem Wortlaut für unkonventionelle Grabreden:Von
wegen: ‚Nur Gutes über die Toten‘ . Wir reden Klartext am
offenen Grab! Getreu dem Motto ‚Weine keine Träne um mich‘
lassen unsere besonders geschulten Grabredner keine einzige
Gemeinheit der oder des Verblichenen aus, die diese im Laufe
ihres Lebens ihrem Umfeld zufügten. Wenn auch Sie über Ihren
verstorbenen Angehörigen nicht nur Gutes hören wollen,
brauchen wir von Ihnen nichts weiter als die erforderlichen
Informationen über den Lebenswandel des Scheusals, das Sie
zu Grabe lassen wollen, alles andere übernehmen wir, die
Experten der Agentur Fröhlicher Heimgang, Ihr Grabreden
Discounter ganz in Ihrer Nähe. Lassen Sie sich von unserer
reichhaltigen Angebotspalette an Schmähreden zum letzten
Gang überraschen; wir versprechen Ihnen schon jetzt bei der
Beerdigung ein paar vergnügliche Stunden am Grab. Rufen Sie
uns an, wir machen selbstverständlich auch Hausbesuche.
Bettina griff zum Hörer, eine solche
Gelegenheit durfte man sich nicht entgehen lassen. Sie
vereinbarte einen Termin mit dem Chef der Agentur
Fröhlicher Heimgang, Heiko Summerland, für den kommenden
Samstagvormittag in ihrer Wohnung. Bettina Böttburger wohnte
in einer kleinen Siedlung, bestehend aus schmucken nicht
mehr ganz neuen Einfamilienhäusern am Rande der Stadt. Heiko
Summerland schaltete sein Navi ein und zeigte sich ziemlich
erstaunt, als ihn dieses in eine Gegend führte, die er noch
nie gesehen hatte, obwohl er glaubte, seine Stadt ziemlich
genau zu kennen. Als er die angegebene Adresse erreichte,
erwartete ihn Bettina bereits vor der Haustür.
»Herr
Summerland?« »In der Tat, der bin ich.« »Treten Sie
bitte ein.« »Nach Ihnen bitte, gnädige Frau.« »Ich
muss schon sagen«, begann Bettina das Gespräch, als sie sich
im Wohnzimmer gegenüber saßen, »das ist ja eine sehr
außergewöhnliche Annonce, die Sie da in die Zeitung gesetzt
haben. Ich war richtig sprachlos. Wie sind Sie denn auf die
Idee gekommen?«
Heiko Summerland schmunzelte. »Da
muss ich Ihnen Recht geben, Frau Böttburger, das ist
wirklich eine außergewöhnliche Annonce. Ja, wie bin ich auf
so eine Idee gekommen? Nun, indem ich mich des öfteren mit
Verbesserungen beschäftige, die das menschliche Leben
erträglicher gestalten könnten, habe ich darüber
nachgedacht, wie dieses im Einzelfall durchzuführen sei, und
dabei bin ich auf eine richtige Marktlücke gestoßen.«
»Eine Marktlücke? Klartext am offenen Grab?« »In der Tat,
Frau Böttburger. Ich wüsste keinen weiteren Anbieter einer
solchen Serviceleistung, eben weil es so etwas bisher noch
nicht gegeben hat. Ich habe mir die Idee selbstredend
patentieren lassen.« »Donnerwetter. Aber darauf muss man
erst einmal kommen.« »Ja, sehen Sie«, schmunzelte Heiko
Summerland erneut, »im Prinzip profitieren wir nur schlicht
und einfach von den bisherigen zwar pietätvollen aber völlig
einfallslosen konventionellen Reden, die bis dato an den
Grabstellen gehalten werden. Wenn Sie sich an den
Gräbern mal umhören, bei Beerdigungen, was da so alles
schöngeredet wird, da könnte einem manchmal glatt der Hut
hochgehen. Da sehen Sie Trauernde am Grabesrand, versteinert
vor Wut über die schöngefärbte Rede des Geistlichen, der den
Verblichenen im Nachhinein fast selig spricht, obwohl die
Betroffenen ihn am liebsten zum Teufel wünschen. Glauben Sie
mir, es gibt nirgendwo soviel Verlogenheit wie am offenen
Grab, und damit muss, verdammt nochmal, endlich Schluss
sein!«
Heiko Summerland hatte sich regelrecht in Rage
geredet. Bettina Böttburger klatschte laut Beifall. Der
Spezialgrabredner wurde ein wenig verlegen, war aber gleich
wieder in seinem Element. »Vielen Dank, Frau Böttburger.
Wie schon gesagt, so verhalten sich die meisten Trauernden
bei konventionellen Grabreden. Äußerlich regungslos, und
innerlich platzen sie vor Wut, je feierlicher der Redner
predigt, doch bei uns? Bei unseren Grabreden vergeht
keine Beisetzung, die nicht von frenetischem Beifall
begleitet wird, es wird geklatscht und getanzt, aus
Trauernden werden plötzlich frohe, na ja, eher schadenfrohe
Menschen, je mehr unsere Experten Tacheles reden. Glauben
Sie mir, das ist es, was die Leute heute hören wollen, denn
wenn er ein Arschloch war, der Verblichene, zeit seines
Lebens, warum soll er plötzlich ein Heiliger sein?«
»Sie haben ja so recht, Herr Summerland«, stimmte Bettina
ihm zu, mit glänzenden Augen. »Doch wissen Sie, was die
ganze Sache noch spannender macht, Frau Böttburger?«
»Nein!« »Dass die Verstorbenen mehr oder weniger
teilnehmen, ob sie wollen oder nicht. Einem Kollegen von mir
ist eine Grabrede gelungen - in diesem Fall war es eine
verheiratete Frau, die nach Auskunft ihres Mannes eine
richtige Hexe gewesen sein muss - eine Grabrede, sage ich,
die der Verstorbenen derart auf den Magen geschlagen war,
dass sie raus wollte, aus dem Sarg - sie war wohl noch nicht
so richtig tot – ja, wirklich, dass sie raus wollte, um
ihren Mann zu verprügeln. Was glauben Sie, was da für eine
Freude aufkam. Die Trauergäste haben eine Polonaise nach der
anderen vollführt, stundenlang, um das offene Grab herum«
Bettina strahlte den Grabprediger an. »Das klingt ja
phantastisch!« »In der Tat, so war es auch. Phantastisch
ist das richtige Wort Aber nun mal zu Ihnen, Frau
Böttburger, was kann ich denn für Sie tun? Wann ist die
Beerdigung und um wen handelt es sich? Ich vermute mal, um
Ihren Ehemann?« Bettina errötete. »Wie Sie das so
schnell erraten haben. In der Tat, es handelt sich um meinen
Mann. Aber er ist noch nicht verstorben, er lebt noch.«
Heiko Summerland wechselte die Gesichtsfarbe. »Er lebt
noch? Wie soll ich das verstehen? Ich meine, wir sind
Spezialisten für Reden am offenen Grab; wenn er noch lebt,
was wollen Sie denn dann von mir? Soll ich ihn etwa tot
quatschen?« »Aber nein! Seien Sie doch nicht
eingeschnappt, Herr Summerland. Er lebt zwar noch, aber
nicht mehr mit mir zusammen. Wir leben getrennt.« »Sie
leben getrennt? Nun, und was heißt das? Ah, ich verstehe.
Ich soll trotzdem eine Grabrede für ihn schreiben? Sozusagen
einen Nachruf auf Vorrat, wie es die Medien mit Prominenten
machen.« »Genau so ist es, Sie haben es erfasst. Es
verhält sich nämlich so. Ich möchte, wenn es einmal soweit
ist, noch einen drauf setzen.« »Wie bitte? Sie möchten
noch einen drauf setzen? Wie meinen Sie das?« »Ich möchte
selbst Klartext sprechen, am offenen Grab. Ihre Fähigkeiten
als Grabredner in allen Ehren, Herr Summerland, doch,
verzeihen Sie bitte, bei einem noch so geübten Redner wie
Sie es sicherlich sind, entgeht mir persönlich doch das
I-Tüpfelchen des Genusses.«
»Das I-Tüpfelchen des
Genusses?« »Ganz genau. Dieses I-Tüpfelchen besteht
nämlich darin, dass ich höchstpersönlich meinem Mann am
offenen Grab hinterher rufen möchte, was für ein Arschloch,
wie Sie vorhin so schön formulierten, er zu Lebzeiten war.
Keine Sorge, finanziell werden wir beide uns schon einig,
Herr Summerland, im Gegenteil. Für Sie springt dabei sogar
noch etwas mehr bei heraus, denn ich hätte es gern, dass Sie
die Rede nicht nur schreiben, sondern mir auch
Sprechunterricht erteilen. Wenn schon, dann möchte ich die
Schmährede so richtig deklamieren, mit allem drum und dran,
damit er auch was davon hat, mein lieber Ehemann. Jetzt
verstehen Sie sicher auch, warum ich nicht warten will, bis
er verstorben ist. So kann ich jetzt erst mal alles in Ruhe
einüben.«
Heiko Summerlands Augen nahmen einen
strahlenden Glanz an, eine weitere Marktlücke tat sich da
auf. »Wunderbar, Frau Böttburger. In diesem Fall bitte
ich Sie doch nun um alle erforderlichen Details aus dem
Leben Ihres Mannes, alles, aber auch alles, was dieses
Scheusal Ihnen und anderen so angetan hat, damit ich Ihnen
eine Grabrede schreiben kann, sag ich Ihnen, die sich
gewaschen hat.
Beginnen wir von vorn. Zuerst einmal
der Name des Verstorbenen, quatsch, er lebt ja noch.
Entschuldigen Sie, ich bin zu schnell, der Name Ihres
Gatten, bitte.« »Heiko Böttburger.« Der Grabredner
stutzte. »Was für ein Zufall. Ich heiße auch Heiko.«
»Ich weiß.« »Sie wissen das? Woher wissen Sie...?«
»Na, Sie haben mir doch Ihre Karte gegeben«, lachte die
Frau. »Aber Sie sind bestimmt nicht ein so böser Heiko wie
meiner, was...« »Das sagen Sie mal nicht, Frau
Böttburger, ich kann auch böse werden.« »Aber Sie doch
nicht!«
Es dauerte mehr als zwei Stunden, bis Heiko
Summerland alle negativen Informationen über den anderen
Heiko fein säuberlich notiert hatte. Wie es den Anschein
hatte, würde es eine der fiesesten Grabreden werden, die er
je verfasst hatte. »Bis wann brauchen Sie die Rede, Frau
Böttburger?« »So schnell Sie können, Herr Summerland.
Ich befürchte, mein Mann macht es nicht mehr allzu lange, er
ist schließlich nicht mehr der Jüngste.« »Na, dann werde
ich mich mal gleich dran setzen, damit wir anschließend noch
genug Zeit zum Einstudieren haben. Bis übermorgen habe ich
sie fertig, die Grabschmährede, und bring sie Ihnen vorbei,
wenn es recht ist. Nachdem Sie die Rede dann zwei bis
dreimal durch gelesen haben, könnten wir anschließend gleich
mit dem Einüben des Textes beginnen, damit nicht unnötige
Zeit verloren geht.« »So machen wir das, Herr Summerland,
vielen Dank vorab.« »Eine Frage noch, Frau Böttburger.«
»Fragen Sie!« »Sie sagten, dass Sie die Grabrede selbst
halten wollten, so haben wir's ja nun vereinbart. Ich hätte
da allerdings noch eine Bitte, wenn es Ihnen nichts
ausmacht. Ich würde gern dabei sein, wenn Sie Klartext
reden, am offenen Grab, einzig und allein, um so eine
Schmährede, die ich selbst schon so oft auf andere
Verblichene gehalten habe, einmal aus einer völlig anderen
Perspektive zu erleben. Wenn Sie verstehen, was ich meine.«
»Oh, das kann ich gut verstehen«, erwiderte Bettina
Böttburger erfreut, »kommen Sie ruhig, und seien Sie mein
Gast, wenn ich die von Ihnen verfasste Grabrede zu Lasten
meines Ehemannes halte.«
Zwei Tage später traf Heiko
Summerland bei Bettina Böttburger ein, mit einer
Grabschmährede, mit der er sich selbst übertroffen hatte.
Eine solche Rede, davon war er überzeugt, hätte selbst
Luzifer im tiefsten Höllenschlund höchste Bewunderung
abgerungen Bettina strahlte vor Glück. Kaum hatte sie
angefangen den Klartext zu lesen, da bog sie sich schon vor
Lachen. »Genau so war er respektive ist er noch, mein
Heiko«, bestätigte sie, als sie den kompletten vierseitigen
Text einmal durchgelesen hatte. »Sie haben ihn richtig gut
getroffen. Darauf müssen wir einen trinken. Darf ich uns ein
Glas Wein kredenzen?« «Ein Gläschen in Ehren, kann keiner
verwehren«, zeigte sich Heiko Summerland erfreut.
Es
blieb nicht bei dem einen Glas. Der Text gefiel beiden
so gut, dass sie ihn gleich mehrfach nacheinander
deklamierten und immer wieder absetzten mussten, vor lauter
Lachen. »Wissen Sie was, Bettina? Ich darf Sie doch so
nennen?« »Dürfen Sie, Heiko, dürfen Sie.« »Ich kann's
kaum noch erwarten, bis es soweit ist.« »Ich ebenfalls.«
Beide prusteten wieder los, vor Lachen. »Bettina, ich
müsste mal eben irgendwohin.« »Dritte Tür links, lieber
Heiko, warten Sie, ich zeig Ihnen den Weg.«
»Nanu«,
staunte Heiko Summerland, als er die besagte Tür öffnete.
Unmittelbar hinter der Tür befand sich statt der gesuchten
Toilette eine relativ steile Treppe, wie man sie von älteren
Einfamilienhäusern her kennt. Aus dem Staunen heraus geriet
er aber regelrecht ins Entsetzen, als er sich umdrehte und
seiner Noch-Ehefrau Marlis, von der er seit Jahr und Tag
getrennt lebte, gegenüberstand. »Du hier, Marlis! Was
machst du denn hier?« »Da staunst du, was du Lump«,
schrie die Frau und wies auf Bettina Böttburger, die neben
ihr stand, »wir sind alte Freundinnen, hast du das nicht
gewusst?« Ein kleiner Stoß genügte und der nicht mehr
ganz nüchterne Heiko fiel rücklings die Treppe hinunter.
»Aber eine schöne Grabrede hast du geschrieben, das muss man
dir lassen«, rief sie ihm hinterher, »passender geht’s
nicht.« Glatter Genickbruch konstatierte die Polizei
später und sprach die Empfehlung aus, auf der Tür zur
Kellertreppe einen kleinen Warnhinweis anzubringen. »Für
fremde Besucher, Frau Böttburger, ist besser so.« »Sie
haben Recht«, stimmte Bettina zu und musste an sich halten,
nicht laut los zu platzen, vor Lachen.
Vor Lachen
platzten ein paar Tage später auch die Trauergäste bei der
Beerdigung von Heiko Summerland los, als seine eigene Frau
Marlis die Grabrede für ihren verstorbenen Gatten hielt, die
er selbst geschrieben hatte. Der Einzige, der nicht
lachte, war Heiko selbst. Er hielt sich im Sarg beide
Ohren zu und dachte voller Zorn an das Gespräch mit Bettina
Böttburger, besonders an seine Bitte: Ich würde
gern dabei sein, wenn Sie Klartext reden, am offenen Grab,
einzig und allein, um so eine Schmährede, die ich selbst
schon so oft auf andere Verblichene gehalten habe, einmal
aus einer völlig anderen Perspektive zu erleben.
Nun war er tatsächlich dabei, so wie er es
gewünscht hatte, doch diese ‚völlig andere Perspektive‘
aber, die behagte ihm nun absolut nicht.
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