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Wahnsinn
Ein ungewöhnlicher Opernabend
Raniero Spahn

Duisburg, Juni 2015 - Wir bereiteten uns auf den anstehenden Opernabend vor. Diese Vorbereitung vollzog sich in der Regel dergestalt, dass meine bessere Hälfte mir meine Gewänder für diesen Abend heraus legte und sich im gleichen Atemzug selbst herausputzte. Ich ließ derweil noch einige Takte des zu Gebote stehenden Opernstückes auf mich ein rieseln, übers Grammophon, und beschäftigte mich zeitgleich mit der Lektüre der Handlung des Werkes.

»Schatz, welche Oper bekommen wir heute zu sehen?« flötete mein Weib aus dem Nachbarzimmer.
»Lucia di Lammermoor, Schätzchen«, gab ich fröhlich zurück, »ein phantastisches Werk.«
»Worum geht es in diesem phantastischen Werk?«
»Das kann ich dir so zwischen Tür und Angel nicht erklären. Augenblick mal.«

Ich stand auf, stellte den Plattenspieler ab und begab mich zu meiner Frau, die gerade versuchte, sich mit hochrotem Kopf in ein für meinen Geschmack viel zu enges Kleid zu zwängen. Ich versuchte, ihr den Inhalt des Stückes mit wenigen Worten darzulegen.
»Also, im Mittelpunkt der Oper steht eine Frau, aus höchsten Adelskreisen, die über den Umstand, dass sie den Mann, den sie liebt, nicht heiraten darf und dass sie aus Staatsräson einen anderen nehmen muss, dem Wahnsinn verfällt.«
»Wie traurig«, bemerkte meine bessere Hälfte, »das ist ja genauso, als wenn ich…«
»Lass, lass!« unterbrach ich sie rüde.
Wenn meine Frau einen Satz mit: »das ist ja genau so« beginnt, dann folgen meist für mich nicht nachzuvollziehende Vergleiche. Sie verzog die Mundwinkel, ein wenig ein geschnappt. Ich änderte den Tonfall.
»Sag mal, mein Schatz«, fuhr ich zärtlich fort, »wärst du auch dem Wahnsinn verfallen, wenn du statt meiner einen anderen Mann hättest nehmen müssen?«
Erwartungsvoll blickte ich sie an. Mein Weib hielt inne, bei ihrer Toilette, und musterte mich prüfend:
»Ich bin dem Wahnsinn verfallen, schon seit langer Zeit«, bemerkte sie spitz, »aber nicht, weil ich einen anderen, sondern weil ich dich nehmen musste!«
Nun war es an mir, beleidigt zu sein.
»Schatz«, schlug meine Frau wiederum einen versöhnlichen Tonfall an, »hilf mir bitte, die Halskette anzulegen! Ich kann hinten doch nichts sehen.«
»Und ich habe meine Brille nicht dabei«, knurrte ich und verließ erbost das eheliche Schlafgemach.

Mit grimmigen Mienen saßen wir beide im Auto, auf dem Weg zu einem entspannenden Abend. Irgendwie hatte sie es fertiggebracht, sich die Halskette allein umzulegen; nun saß sie wortlos neben mir auf dem Beifahrersitz. Alles vollzog sich schweigend, nach einem einschlägigen Ehekrach-Ritual. Ich hätte ihr so gern noch einiges von der bevorstehenden Oper erzählt, auf die ich mich seit Tagen vorbereitet hatte, gern noch die eine oder andere Arie geschmettert oder aus dem Kassettengerät zu Gehör gebracht, wie ich es sonst zu tun pflegte, wenn wir nicht in Kampfstimmung dem Abend entgegensahen.
Wir nahmen unsere Plätze ein, im Parkett, immer noch ohne Worte. Die Oper begann. Ich schloss die Augen, um mich der wunderbaren Musik hinzugeben und gänzlich abzuschalten. Doch an diesem Abend wollte es mir nicht so recht gelingen.
Der Höhepunkt der Oper, die Wahnsinn - Arie der Lucia war gekommen. Im Parkett war es nun mucksmäuschen still, man hätte die berühmte Stecknadel fallen hören können. Auch auf der Bühne war es totenstill. Merkwürdig, der gesamte Chor auf der Bühne blickte in Richtung Publikum. Noch immer gelang es mir nicht, mich komplett auf diese Szene, das musikalische Highlight des Werkes, zu konzentrieren. Mein Kopf war noch beschäftigt mit dem blöden Streit.

So ein blöder Abend, schoss es mir durch den Kopf. Was hat sie nur?
Im gleichen Augenblick schallte es von der Bühne, in edler Sopranstimme: »So ein blöder Abend, was hat sie nur?«

Mein Gott, was war das denn? Die Darstellerin der Lucia, die inzwischen die Bühne betreten hatte, war von ihrem Text abgewichen und sang offensichtlich meine Gedanken! Das war ja ungeheuerlich! Sie stand mitten auf der Bühne, blickte mir ins Gesicht und sang meine Gedanken. Ich spürte, wie das Blut mir zu Kopfe stieg.

»Manches mal könnte ich ihn gegen die Wand klatschen!« erklang es nun von der Bühne. Dieses waren nun allerdings nicht meine Gedanken gewesen, irgendjemand anderes musste so etwas durch den Kopf gegangen sein. Ich blickte zu meiner Frau hinüber. Sie hatte den ebenso roten Kopf wie ich.
›Aha, dachte ich, daher weht der Wind, deine Gedanken liest sie auch, warum musstest du auch mit dem Kopf durch die Wand gehen?‹
»Musstest du auch mit dem Kopf durch die Wand gehen?« tönte es gleichsam als Echo von der Bühne. Wir blickten uns beide an, mein Weib und ich, mit hochroten Köpfen.
»Sie kann unsere Gedanken lesen«, flüsterte kaum vernehmlich meine bessere Hälfte.
»Ich weiß«, gab ich genau so leise zurück.

Nun begannen auch die Zuschauer, sich für uns zu interessieren. Vor uns in den Reihen drehten sich etliche von ihnen um und blickten uns unverhohlen ins Gesicht.
›Dreht euch um, ihr Blödköpfe!‹ dachte ich bei mir.
»Ihr Blödköpfe«, hörte man von der Bühne.
›Das hast du nun davon‹, dachte ich in Richtung meiner Frau.
»Hast du nun davon«, klang es gnadenlos.
»Zum Streit gehören immer Zwei«, klang es weiter.
Mein Weib hatte mir gedanklich geantwortet.
›Wir müssen hier raus!‹, dachte ich flehentlich; mein Weib schien das gleiche zu denken.
»Sie müssen hier raus«, erklang das Echo von vorne.
»Gib mir deine Hand.« flüsterte ich meiner besseren Hälfte zu, »Komm, lass uns gehen!«
»Reich mir die Hand, mein Leben«, klang es nun vielstimmig von der Bühne, der gesamte Chor sang nun mit, »komm auf mein Schloss mit mir!«

Fluchtartig verließen wir unter starkem Beifall des Publikums und aller Darsteller auf der Bühne das Parkett.
Wir haben uns geschworen, nie mehr vor einer Opernaufführung einen Streit vom Zaun zu brechen.

Dann schon lieber das Gegenteil;
…aber wenn sie dann auch wieder die Gedanken lesen können?