Urteile  Archiv Januar- März 2011

 

Landesarbeitsgericht

Klassenfahrt keine Privatangelegenheit - Angestellter Lehrer hat Anspruch auf Reisekostenerstattung
Die 11. Kammer des Landesarbeitsgerichts Hamm hat am 03.02.2011 das Berufungsverfahren 11 Sa 1852/10 entschieden, in dem es um die Erstattung von 5. März 2011 - Reisekosten für eine angestellte Lehrkraft im nordrhein-westfälischen Schuldienst geht.
Die Klägerin unterrichtet an einer Gesamtschule im Kreis Warendorf und war im Schuljahr 2008/2009 Klassenlehrerin einer 10. Klasse. Im August 2007 beantragte sie für ihre Klasse die Genehmigung einer Studienfahrt nach Berlin im September 2008. In dem von ihr unterschriebenen Antragsformular für eine Dienstreisegenehmigung erklärte sie formularmäßig den Verzicht auf die Zahlung von Reisekostenvergütung, da diese durch die für die Schule vorgesehenen Haushaltsmittel nicht mehr gedeckt waren.
Insgesamt zahlte die Klägerin für die Fahrt, die Übernachtung und Verpflegung sowie den Besuch eines Musicals insgesamt 234,50 €, von denen sie von der Schule 28,45 € erstattet bekam. Der Differenzbetrag ist Gegenstand der Klage. Das beklagte Land hat im Wesentlichen eingewandt, die Klägerin habe keinen Anspruch, da sie in dem Formularantrag ausdrücklich auf Reisekostenerstattung verzichtet habe.
Das Arbeitsgericht Münster ist der Argumentation des Landes in dem Verfahren 1 Ca 334/10 gefolgt und hat die Klage abgewiesen.
Hiergegen richtet sich die Berufung der Klägerin.
Diese hatte bei der 11. Kammer des Landesarbeitsgerichts Erfolg. Sie hat das Land zur Zahlung der Reisekosten verurteilt und die Revision zum Bundesarbeitsgericht zugelassen.
Grundsätzlich hat die angestellte Lehrkraft im nordrhein-westfälischen Schuldienst bei Durchführung einer genehmigten Klassenfahrt Anspruch auf Erstattung ihrer Reisekosten nach dem Landesreisekostengesetz. Dieses sieht zwar die Möglichkeit vor, auf die Reisekosten schriftlich zu verzichten. Hierauf kann sich das beklagte Land aber dann nicht berufen, wenn die Verzichtserklärung unter Verletzung der dem Bediensteten geschuldeten Fürsorgepflicht erwirkt worden ist und damit treuwidrig ist Dieser Fall liegt nach der Auffassung des Landesarbeitsgerichts Hamm hier vor, weil die Genehmigung der Klassenfahrt nach der sogenannten Wanderrichtlinie des nordrhein-westfälischen Schulministeriums davon abhängig gemacht worden ist, dass die Lehrkraft zuvor schriftlich auf die Zahlung der Reisekosten verzichtet. Da Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer nach der allgemeinen Dienstordnung für Lehrerinnen und Lehrer in besonderer Weise zur Teilnahme an den Fahrten ihrer Klasse angehalten sind, widerspricht es der arbeitgeberseitigen Fürsorgepflicht in besonderem Maße ,wenn die Klassenlehrerinnen und Klassenlehrer vor die Alternative gestellt werden, entweder auf die Reisekostenansprüche zu verzichten oder ihre Klasse im Stich zu lassen.

Oberlandesgericht

Vertragsklausel, die eine Aushändigung von Postsendungen an Nachbarn ohne Benachrichtigung des Empfängers vorsieht, gegenüber Verbrauchern unwirksam
2. März 2011 - Der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Köln hat eine Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, die eine Ersatzzustellung durch Aushändigung von Briefen und Paketen an Hausbewohner und Nachbarn ermöglicht, ohne zugleich eine Benachrichtigung des Empfängers der Sendung vorzusehen, in einem am 2. März 2011 verkündeten Urteil als unwirksam angesehen.
Das Oberlandesgericht hat einen Verstoß der Klausel gegen § 307 Abs. 1 des Bürgerlichen Gesetzbuchs (BGB) angenommen und den Paketdienstleister im Berufungsverfahren zur Unterlassung der Verwendung der Vertragsbestimmung in Verträgen gegenüber einem Verbraucher verurteilt. Geklagt hatte ein Verbraucherschutzverein gegen ein Unternehmen, das die Beförderung von Paketen und Express-Sendungen anbietet. Das Landgericht Köln hatte die Klausel als wirksam angesehen und die Klage in erster Instanz abgewiesen.
Die Allgemeinen Geschäftsbedingungen des Paketdienstleisters haben zur Ersatzzustellung folgenden Inhalt:
"X. darf Sendungen, die nicht in der in Absatz 2 genannten Weise abgeliefert werden können, einem Ersatzempfänger aushändigen. Dies gilt nicht für Sendungen mit dem Service "Eigenhändig", Express-Sendungen mit dem Service "Transportversicherung 25.000,- Euro" und Express-Briefe mit dem Service Transportversicherung 2.500,- Euro. Ersatzempfänger sind
1. Angehörige des Empfängers oder des Ehegatten, oder
2. andere, in den Räumen des Empfängers anwesende Personen, sowie dessen Hausbewoh-ner und Nachbarn, sofern den Umständen nach angenommen werden kann, dass sie zur Annahme der Sendung berechtigt sind; Express-Briefe werden nicht an Hausbewohner und Nachbarn ausgehändigt."
Gegenstand des gerichtlichen Verfahrens war nur die Regelung zur Ersatzzustellung an Hausbewohner und Nachbarn. Der Senat sieht eine unangemes-sene Benachteiligung des Vertragspartners des Paketdienstleisters im Sinne von § 307 Abs. 1 Satz 1 BGB darin, dass bei dem durch die Klausel vorgese-henen Verfahren der Ersatzzustellung an Hausbewohner und Nachbarn den berechtigten Interessen des Empfängers nicht hinreichend Rechnung getragen wird, obwohl dies ohne weiteres möglich und dem Beförderungsunternehmen auch zumutbar wäre. Das Oberlandesgericht erachtet es als notwendig, dass der Empfänger einer Sendung von dieser erfährt und davon in Kenntnis gesetzt wird, wo er sie in Besitz nehmen kann. Da die Klausel eine rechtliche Verpflichtung hierzu nicht enthält, liegt nach Auffassung des Senats eine unangemessene Benachteiligung des Vertragspartners vor.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, so dass eine Revision zum Bundesgerichtshof nur nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde möglich wäre. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen.
Das Urteil ist in den nächsten Tagen abrufbar unter www.nrwe.de.
 

Sozialgerichts-Urteile

Sozialgericht: Verein zahlt Künstlersozialabgabe für Öffentlichkeitsarbeit
2. März 2011 - Ein gemeinnütziger Verein wird zur Künstlersozialabgabe herangezogen, soweit er im Rahmen seiner Öffentlichkeitsarbeit nicht nur gelegentlich Auträge an selbständige Künstler vergibt.
Dies entschied das Sozialgericht Dortmund im Falle des Forschungsinstituts Geragogik e.V. in Witten auf dessen Klage gegen einen entsprechenden Heranziehungsbescheid der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund. Das Institut hatte u.a. die Erstellung von Tagungs- und Einladungsflyern, Briefbögen, Visitenkarten, Logos, Bildbearbeitungen und Plakaten sowie das Design und die Progammierung des Internetauftritts bei verschiedenen Firmen in Auftrag gegeben. Die DRV errechnete aus den Rechnungsbeträgen die Abgabe, weil das Forschungsinstitut Werbung und Öffentlichkeitsarbeit für das eigene Unternehmen betreibe und dabei nicht nur gelegentlich Aufträge an selbständige Künstler erteile.
Die hiergegen erhobene Klage des Forschungsinstituts wies das Sozialgericht Dortmund ab. Die Klägerin sei ein abgabepflichtiges Unternehmen, weil sie künstlerische Leistungen zur Öffentlichkeitsarbeit und Werbung verwerte. Die Rechtsform und die Ausgestaltung der Finanzierung des Vereins durch öffentliche Mittel seien in diesem Zusammenhang unerheblich. Eine direkte Einnahmeerzielung durch die Maßnahmen der Werbung oder Öffentlichkeitsarbeit und damit eine unternehmerische Tätigkeit im engeren Sinne sei nicht erforderlich.
Arbeiten wie Satzgestaltung, Layout, grafische Arbeiten, Bildbearbeitungen, Reinzeichnungen, Entwürfe und Gestaltung von Logos und Foldern, Erstellung von Plakatbildern, Bearbeitung von Fotos unterliegen nach Auffassung des Sozialgerichts als künstlerische Leistungen ebenso der Abgabepflicht wie das Web-Design. Im Rahmen des Web-Designs stehe die kreative Gestaltung der Webseite im Vordergrund. Die technische Umsetzung, bei der die einzelnen Elemente des Gesamtdesigns in die Internetseite eingefügt und gepflegt würden, diene ebenso der Vollendung des Gesamtwerks und könne nicht isoliert betrachtet werden. Auf den künstlerischen Charakter einzelner Arbeitsschritte komme es deshalb bei der Berechnung der Abgabe nicht an.
Sozialgericht Dortmund, Urteil vom 25.02.2010, Az.: S 34 R 321/08
 

Sozialgerichts-Urteile

Anrechnung des Elterngeldes verfassungsgemäß
11. Februar 2011 - Während bis Ende Dezember 2010 das Elterngeld in Höhe von 300,00 Euro monatlich nicht auf die Grundsicherungsleistungen angerechnet wurde, müssen Hilfebedürftige nunmehr die Berücksichtigung dieser Zahlungen hinnehmen. Dies steht mit der Verfassung im Einklang. Der Gesetzgeber war aufgrund des ihm zustehenden Entscheidungsspielraums berechtigt, die Privilegierung des Elterngeldes gegenüber anderen Einnahmen aufzuheben. Ein Verstoß gegen den Gleichheitsgrundsatz liegt nicht vor, da alle elterngeldberechtigten Personen für die Zeit ab dem 01.01.2011 gleichermaßen betroffen sind.
Beschluss vom 19.01.2011 - S 8 AS 37/11 ER - (rechtskräftig)

Krankenkasse muss Zuschuss für Rollstuhlbasketball bezahlen
Ein Querschnittsglähmter kann dauerhaft Anspruch auf finanzielle Förderung des Rollstuhlsports haben, wenn dies zur Unterstützung der medizinischen Rehabilitation notwendig ist. Der Krankenkasse ist die Berufung auf die von den Rehabilitationsträgern geschlossene Rahmenvereinbarung, die eine zeitliche Begrenzung des Anspruchs vorsieht, verwehrt. Dies gilt auch dann, wenn die Krankenkasse in der Vergangenheit den Gruppensport bereits finanziell unterstützt hat. Der Gesetzgeber hat den Rehabilitationssport in Gruppen ausdrücklich als ergänzende Leistung zur Krankenbehandlung aufgeführt. Wenn neben der Krankenbehandlung, etwa zur Motivationssteigerung, der Gruppensport notwendig ist, muss die Krankenkasse anders als bei gymnastischen Übungen, die in Eigenregie durchgeführt werden können, eine finanzielle Unterstützung gewähren.
Urteil vom 24.11.2010 - S 5 KR 172/09 - (rechtskräftig)

Eine Prothese im Wert von 25.000 Euro (C-Leg) muss die Krankenkasse finanzieren, wenn der Amputierte von der Nutzung voraussichtlich profitieren wird.
Oberschenkelamputierte haben Anspruch auf eine technisch hochwertige prothetische Versorgung. Ob ein microprozessorgesteuertes hydraulisches Gelenk, mit dem ein variantenreiches Gehen wieder möglich sein kann, für einen Versicherten geeignet ist, muss aufgrund einer Prognose entschieden werden. Dabei ist der Aktivitätsgrad des Betroffenen sowie seine Fähigkeit zu berücksichtigen, die technischen Möglichkeiten beim Laufen umzusetzen.
Diese Vorgaben hat das Sozialgericht Detmold im Fall des 54-jährigen Klägers bestätigt, der seit 30 Jahren mit einem Bremskniegelenk versorgt war. Die Krankenkasse konnte sich nicht darauf berufen, eine Verbesserung des Gehvermögens sei wegen der fehlenden Anpassungsfähigkeit unwahrscheinlich. Der aktive und bewegungsfreudige Kläger hat zwar auch bei einer vierwöchigen Probe mit dem teuren Gelenk nur geringfügig die technischen Möglichkeiten (alternierendes Treppensteigen, Entlastung der nichtamputierten Körperhälfte) umsetzen können. Bei fortdauerender Nutzung der hochwertigen Prothese wird jedoch ein Zuwachs an Sicherheit, eine Harmonisierung des Gangbildes und eine Verringerung des Kraftaufwandes wahrscheinlich sein.
Urteil vom 03.03.2010 - S 5 KR 307/07- (rechtskräftig)
Die Klage einer 69-jährigen Versicherten hat das Gericht jedoch abgewiesen. Trotz einer 6-monatigen Probeversorgung konnte die Klägerin nicht auf weitere Hilfsmittel beim Laufen verzichten. Sie war auch nicht in der Lage, den Einbeinstand sicher vorzuführen. Der subjektiv empfundene Sicherheitsgewinn bei der Nutzung der technisch hochwertigen Prothese allein rechtfertigt nicht die teure Versorgung, auch wenn das Hilfsmittel in möglichst weitgehender Weise die Funktion der nicht mehr vorhandenen Gliedmaße auszugleichen hat. Die Kammer sah es im Einvernehmen mit dem Sachverständigen nicht als erwiesen an, dass die Klägerin ihr von Angst und Unsicherheit geprägtes Gangbild bei dauerhafter Nutzung des C-Leg wird umstellen können. Deutliche Gebrauchsvorteile gegenüber der herkömmlichen Versorgung waren nicht erkennbar.
Urteil vom 17.02.2010 - S 5 KR 196/08 -
nicht rechtskräftig – Berufung anhängig unter Az: L 5 KR 143/10

Magenoperation im Kampf gegen das Übergewicht nicht der richtige Weg
Chirurgische Maßnahmen bei einem BMI von 44 müssen nur dann von der Krankenkasse finanziert werden, wenn feststeht, dass alle anderen Mittel zur Gewichtsreduktion versagt haben. Der Versicherte ist im Vorfeld verpflichtet, verschiedene Diäten auszuprobieren, Bewegungs- und Ernährungstherapie in Anspruch zu nehmen, ggf. eine Psychotherapie zu durchlaufen oder stationäre Rehabilitationsmaßnahmen zu absolvieren.
Eine operative Magenverkleinerung oder ähnliche chirurgische Maßnahmen waren auch bei der 40 -jährigen Klägerin nicht medizinisch notwendig. Es war nicht erkennbar, dass die Versicherte das Basisprogramm nach den Leitlinien zur Therapie der Adipositas mit einem gewissen Maß an Selbstdisziplin verfolgt hat. Auch wenn an das Durchhaltevermögen des Betroffenen keine übersteigerten Anforderungen gestellt werden dürfen, kann der Versicherte nicht davon ausgehen, die einzelnen Schritte der konservativen Behandlung nur „abzuhaken“, um sich auf diese Weise die Voraussetzungen für eine operative Behandlung der Adipositas zu erarbeiten. Wenn prognostisch nicht erkennbar ist, dass es dem Versicherten auf lange Sicht gelingt, seine Lebens- und Essgewohnheiten umzustellen, wird auch der Erfolg einer magenverkleinernden Operation ungewiss sein. In einem solchen Fall dürfen die Krankenkassen die Kosten für die Behandlung nicht übernehmen.
Urteil vom 26.02.2009 - S 5 KR 158/06 -

Fußballturnier an einer Fachhochschule unterliegt nicht dem gesetzlichen Unfallversicherungsschutz
Ein jährlich durchgeführtes Traditionsturnier, das an einer Fachhochschule durchgeführt und vom Allgemeinen Studentenausschuss (AstA) organisiert wird, stellt keine Veranstaltung im Rahmen des allgemeinen Hochschulsports dar. Wenn sich einer der Teilnehmer verletzt, kann die Unfallkasse NRW für Leistungen – etwa die Gewährung von Verletztengeld – nicht in Anspruch genommen werden.
Nach der Rechtsprechung des Bundessozialgericht ist Betriebssport nur unter bestimmten Voraussetzungen der versicherten Tätigkeit zuzurechnen. Es muss sich um solche Betätigungen handeln, die einen Ausgleich für die Arbeit bezwecken. Sie dienen nicht nur den persönlichen Interessen des Beschäftigten, sondern wesentlich auch denen des Unternehmens. Im Rahmen sportlicher Betägigung an Hochschulen bedeutet dies, dass auch die Teilnahme am allgemeinen Hochschulsport geschützt ist. Hiervon sind aber nur solche Veranstaltungen erfasst, die im Vorlesungsverzeichnis aufgeführt sind. Gelegentliche Wettkämpfe gegen Mannschaften anderer Betriebssportgemeinschaften dienen jedoch – wie auch im entschiedenen Fall – im wesentlichen den eigenen Interessen der Teilnehmer. Die eigene Gesunderhaltung und die körperliche Leistungstüchtigkeit bzw. der Ehrgeiz, sich mit anderen im Wettkampf zu messen, steht im Vordergrund.
Urteil vom 21.10.2010 - S 14 U 152/08 -
nicht rechtskräftig – Berufung anhängig unter Az: L 17 U 678/10

Gleitsichtbrille stellt Sonderbedarf nach dem SGB II dar
Kosten für die Beschaffung einer Gleitsichtbrille sind als unabweisbarer, laufender, nicht nur einmaliger Mehrbedarf vom Grundsicherungsträger zu übernehmen. Dies folgt für die Zeit vor dem 03.06.2010 unmittelbar aus der Entscheidung des Bundesverfassungsgerichts (BVerfG) vom 09.02.2010 (1 BvL 1/09; 1 BvL 3/09; 1 BvL 4/09). Die vom BVerfG geforderte atypische Bedarfslage erklärt sich hier aus der besonderen Lebenssituation des an Diabetes mellitus erkrankten Leistungsempfängers. Dieser kann sein durch das Grundgesetz garantiertes Existenzminimum durch die pauschaliert erbrachten Leistungen nach dem SGB II nicht mehr sicherstellen. Er kann insbesondere die Kosten für die Anschaffung der Sehhilfe wegen des bereits gesundheitsbedingt erheblichen Bedarfs nicht aus der Regelleistung an- oder einsparen. Betrachtet man den atypischen Bedarf nur nach Gegenständen getrennt, so könnte es sein, dass überhaupt kein Mehrbedarf im Sinne des Urteils des BVerfG entstünde, wenn jeder Einzelposten nur einmal im Bewilligungszeitraum benötigt würde. Eine solche Sichtweise wird der Entscheidung des BVerfG nicht gerecht. Der Gesetzgeber sollte hierdurch vielmehr veranlasst werden, dafür Sorge zu tragen, dass in besonderen Härtefällen das Existenzminimum von Menschen, die regelmäßig mehr Leistungen benötigen, als sich aus dem statistischen Mittel ergibt, im untersten Netz der sozialen Absicherung ausreichend aufgefangen werden.
Urteil vom 11.01.2011 - S 21 AS 926/10 -

Anrechnung von Kindergeld auf Arbeitslosengeld II
Wenn die Kindergeldbewilligung im Nachhinein von der Familienkasse aufgehoben und die Erstattung verlangt wird, ändert dies nichts an der Tatsache, dass das Kindergeld ursprünglich verfügbares Einkommen war. Als solches ist es auf das Arbeitslosengeld II (Hartz IV) anzurechnen. Einkommen im Sinne des SGB II ist alles, was jemand nach Antragstellung wertmäßig dazu erhält. Es kommt nicht auf die Herkunft und Rechtsgrundlage der Einnahmen an. Entscheidend ist der tatsächliche Zufluss und ob die Mittel zum Bestreiten des Lebensunterhalts eingesetzt werden können. Eine Anrechnung als Einkommen ist u.a. nur dann nicht möglich, wenn die Einnahme von vornherein mit einer Rückzahlungspflicht- wie zB. beim Darlehn- verbunden ist. Hier war die Zahlung des Kindergeldes zunächst ohne Rückzahlungsverpflichtung erfolgt. Die nachträgliche Erstattungspflicht ergab sich erst aufgrund des Erstattungsbescheides der Familienkasse und kann nicht mehr den ursprünglichen tatsächlichen Zufluss im Monat des Bedarfes beeinflussen.
Urteil vom 18.01.2011 - S 18 AS 201/09 -
nicht rechtskräftig - Berufung anhängig unter Az: L 12 AS 193/11 -
a A. Urteil vom 31.03.2009 - S 8 AS 61/08 -

Abwrackprämie wird auf das Arbeitslosengeld II nicht angerechnet
Einnahmen- wie die sogenannte Abwrackprämie( staatliche Umweltprämie)- dienen einem anderen Zweck als die Leistungen nach dem SGB II und sind deshalb hierauf nicht anrechenbar. Die von der Bundesregierung initiierte Umweltprämie in Höhe von 2500€ diente der Reduzierung der Schadstoffbelastung und der Stärkung der Nachfrage von Personenkraftwagen. Demgegenüber verfolgt die Gewährung von Grundsicherungsleistungen den Zweck der Sicherung von Unterhalt oder Eingliederung. Eine Anrechnung der Prämie als Einkommen auf Leistungen des SGB II würde den von der Bundesregierung mit der Umweltprämie verfolgten Zweck vereiteln.
Urteil vom 30.03.2010 - S 18 AS 168/09 -
nicht rechtskräftig – Berufung anhängig unter Az: L 7 AS 731/10 -

Veröffentlichung des Transparenzberichts begegnet im einstweiligen Rechtsschutzverfahren keinen Bedenken
Die Antragsstellerin, eine Pflegeeinrichtung, wendet sich bei der Veröffentlichung des Transparenzberichts der Pflegeeinrichtung ohne Erfolg gegen die Anbringung eines Warnhinweises und die Sortierung nach Risikofaktoren.
Die Landesverbände der Pflegekassen sollen nach dem SGB XI sicher stellen, dass die von Pflegeeinrichtungen erbrachten Leistungen und deren Qualität, insbesondere hinsichtlich der Ergebnis- und Lebensqualität, für die Pflegebedürftigen und ihre Angehörigen verständlich, übersichtlich und vergleichbar sowohl im Internet als auch in anderer Form veröffentlicht werden. Der veröffentlichte hier streitige Transparenzbericht genügt den gesetzlichen Anforderungen. Über die Website unter www.pflegeheim-navigator und die Angabe von Postleitzahl oder Stadt erhält der interessierte Verbraucher Informationen über alle Einrichtungen im Umkreis. In der Suchmaske wird man zu einem Feld geführt über Einrichtungen, die bereits einen Transparenzbericht erhalten haben. Es öffnet sich dann ein besonders Warnfenster, dass auf Risikofaktoren hinweist, die auf Anhieb für die Gesundheit des Heimbewohners nicht erkennbar sind. Der Begriff des Risikofaktors wird durch einen weiteren Link näher erläutert. Zudem befindet sich im Pflegenavigator eine Website, nach der der Verbraucher den Transparenzbericht nach wichtigen Risikofaktoren sortieren kann. Einer dieser Risikofaktoren wurde bei der antragsstellenden Pflegeeinrichtung mit der Note 5.0 bewertet. Diese Vorgehensweise verstößt weder gegen Vorschriften des SGB XI noch gegen Bestimmungen der Pflege-Transparenzvereinbarung stationär (PTVS)
Beschluss vom 10.12.2010 - S 17 P 110/10 ER -
nicht rechtskräftig - Beschwerde anhängig unter Az: L 10 P 150/10 B ER -
 

Prozessbeginn beim Landgericht Duisburg: Kreditbetrug, zehn Steuerstraftaten, vier Betrugstaten und neun Insolvenz- und Bankrottdelikte

10. Februar 2011 - Am Montag, 14.02.2011, beginnt im Landgericht Duisburg um 9.30 Uhr vor der 4. großen Strafkammer als Wirtschaftsstrafkammer in Saal 179 die Hauptverhandlung gegen einen 58-jährigen Architekten und Projektentwickler aus Aachen und Düsseldorf.
Zwei Anklagen legen ihm im Zusammenhang mit seiner geschäftlichen Tätigkeit nach Beschränkung der Strafverfolgung einen Kreditbetrug, zehn Steuerstraftaten, vier Betrugstaten und neun Insolvenz- und Bankrottdelikte zur Last.
Der Angeklagte soll Gesellschafter und Geschäftsführer zahlreicher Gesellschaften gewesen sein. Die Staatsanwaltschaft Duisburg geht davon aus, dass diese Gesellschaften und der Angeklagte selbst spätestens im Jahre 2003 wegen ungerechtfertigter Entnahmen, Verlusten aus Bauprojekten und erheblichen Steuerrückständen nach unterbliebenen oder falschen Steuererklärungen wirtschaftlich in eine existentielle Krise gerieten.
Im Rahmen der Kreditgewährung für ein Bauvorhaben durch eine Großbank soll der Angeklagte über die vereinbarten Baukosten getäuscht und diese zu hoch angegeben haben. Außerdem soll er verschwiegen haben, dass sich das Auftragsvolumen nachträglich verringerte. Ein danach nicht geschuldeter aber zunächst aus den
Kreditmitteln gezahlter Werklohn in Höhe von rund 7,5 Millionen EUR soll dann an Firmen des Angeklagten und eines früheren Geschäftspartners zurückerstattet worden sein, nachdem diese zum Schein tatsächlich nicht erbrachte Leistungen gegenüber der Bauunternehmung abgerechnet hätten. Die Bauunternehmung soll ihrerseits die Vorsteuern aus den Scheinrechnungen des Angeklagten und seines früheren Geschäftspartners zu Unrecht steuermindernd geltend gemacht haben.

Der Angeklagte soll weiter zumindest billigend in Kauf genommen haben, dass verschiedene von ihm (mit)beherrschte Firmen gegenüber den Finanzbehörden zu hohe Vorsteuerbeträge erklärten und ihren Gewinn zu gering angaben, um Steuern in Millionenhöhe zu verkürzen.
Außerdem soll er durch falsche Angaben seiner Einkünfte aus Ge-werbebetrieben und Gesellschaftsbeteiligungen die eigene Einkommenssteuer für die Jahre 2003, 2004, 2006 und 2007 um insgesamt rund 3,1 Millionen EUR verkürzt haben.

Der Angeklagte soll darüber hinaus im Zusammenhang mit Mietverträgen zwischen einem Großunternehmen und Firmen des Angeklagten täuschungsbedingt einen Mietausfallschaden von mindestens 131.000 EUR verursacht haben.

Gegenüber drei Gläubigern soll der Angeklagte falsche Vermögensverzeichnisse vorgelegt und dabei erhebliches Vermögen und Einkommen verschwiegen haben, um die Gläubiger zu einem Verzicht auf einen erheblichen Teil ihrer Forderungen zu bewegen. So soll es ihm gelungen sein, dass eine Sparkasse eine Forderung über rund 900.000 EUR für 100.000 EUR und eine Baufirma eine Forderung über rund 462.000 EUR ebenfalls für nur 100.000 EUR an vom Angeklagten beherrschte Firmen verkauften. In einem weiteren Fall war eine große Bank letztlich nicht bereit, auf einen Teilbetrag einer Forderung über rund 16.000 EUR zu verzichten.
Schließlich soll es der Angeklagte als Geschäftsführer bei verschiedenen Firmen unterlassen haben, pflichtgemäß Bilanzen zu erstellen und Insolvenzanträge zu stellen.

Die Hauptverhandlung ist zunächst auf 21 Tage anberaumt.

Kein Anspruch auf Einführung von Weltanschauungsunterricht an öffentlichen Schulen

3. Februar 2011 - Mit dem gestern in öffentlicher Sitzung verkündetem Urteil hat die 18. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf die Klage des Humanistischen Verbandes Nordrhein-Westfalen, Körperschaft des Öffentlichen Rechts in Dortmund, gegen das Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung auf Einführung von Weltanschauungsunterricht als ordentliches Lehrfach an öffentlichen Schulen des Landes Nordrhein-Westfalen abgelehnt und in den schriftlichen Urteilsgründen dazu Folgendes ausgeführt:
Aus der Glaubens-, Gewissens- und weltanschaulichen Bekenntnisfreiheit gemäß Artikel 4 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) könne der Anspruch nicht hergeleitet werden. Dieses Grundrecht schütze innere Überzeugungen und deren Äußerung. Das Recht des Klägers auf seine innere Überzeugung und die Kundgabe seiner Weltanschauung stehe jedoch nicht im Streit. Ihm komme es vielmehr darauf an, ein bestimmtes Forum – die Schule – für eine Kundgabe seiner Überzeugung zu erhalten.
Ein bestimmtes Forum für das Bekenntnis einer inneren Überzeugung gewährleiste Artikel 4 Abs. 1 GG indes nicht. Auch könne der Kläger den geltend gemachten Anspruch nicht aus Artikel 4 Abs. 2 GG ableiten, der zwar die Ausübung der Religion in Gestalt liturgischer und ähnlicher Abläufe gewährleiste, nicht aber die Einrichtung eines bestimmten und einflussversprechenden Forums im Fächerkanon öffentlicher Schulen.
Schließlich ergebe sich der Anspruch nicht aus Artikel 7 Abs. 3 GG, wonach Religionsunterricht in den öffentlichen Schulen mit Ausnahme der bekenntnisfreien Schulen ordentliches Lehrfach sei. Denn Kooperationspartner des Staates im Sinne des Artikel 7 Abs. 3 GG könne nur eine Religionsgemeinschaft, nicht hingegen eine wie hier vom Kläger repräsentierte Weltanschauungsgemeinschaft sein. Das Grundgesetz privilegiere insoweit Religionsgemeinschaften und grenze demgegenüber Weltanschauungsgemeinschaften als Einflussfaktor im Bereich öffentlicher Schulen aus.
Gegen das Urteil kann Antrag auf Zulassung der Berufung beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen beantragt werden.
Az.: 18 K 5288/07
 

Verwaltungsgericht: Keine Kosmetikbehandlungen in Apotheken

26. Januar 2011 - Kosmetikbehandlungen in den Räumlichkeiten einer Apotheke sind unzulässig. Das hat das Verwaltungsgericht Minden mit Urteil vom heutigen Tage entschieden.
Die Klägerin, eine Apothekerin aus Bielefeld, betreibt in Gütersloh eine Filialapotheke, in deren Obergeschoss sie Kosmetikbehandlungen wie Peeling, Entspannungsmassage, Brauenkorrektur und Maniküre anbietet. Der Raum wird über eine Außentreppe und durch einen Flur erreicht, von dem aus auch zur Apotheke gehörende Vorratsräume und das Labor zugänglich sind.

In dieser Ausgestaltung verstoßen die von der Klägerin angebotenen Kosmetikbehandlungen nach Auffassung der zuständigen 7. Kammer des Verwaltungsgerichts gegen die Regelungen der Apothekenbetriebsordnung. Die von der Klägerin angebotenen Kosmetikbehandlungen stellten weder eine ohne Weiteres mit dem Apothekenbetrieb einhergehende Leistung dar noch handele es sich um ein innerhalb der Apothekenbetriebsräume erlaubtes sog. Nebengeschäft.
Dabei sei zu berücksichtigen, dass die Tätigkeit des Apothekers immer an seinem Auftrag zu messen sei, eine ordnungsgemäße Versorgung der Bevölkerung mit Arzneimitteln sicherzustellen.
Dieser Vorrang des Arzneimittelversorgungsauftrages verbiete eine Geschäftsgestaltung, die – wie hier – befürchten lasse, dass sich die Apotheke zu einem Kosmetikstudio entwickele. Ausweislich ihres Internetauftritts bewerbe die Klägerin ihren „Kosmetikbereich“ nämlich im Sinne eines vollständigen Kosmetikstudios mit umfänglichen und vielfältigen Leistungspaketen, die im Einzelfall sogar einen Zeitraum von ca. 150 Minuten in Anspruch nehmen sollen.
Die Frage, ob Kosmetikbehandlungen in von den Betriebsräumen einer Apotheke abgetrennten Räumen zulässig sind, war nicht Gegenstand des Verfahrens.
Gegen das Urteil kann binnen eines Monats die Zulassung der Berufung beantragt werden, über die das Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen entscheidet.
(Urteil vom 26. Januar 2011 - 7 K 1647/10 -, nicht rechtskräftig.)

Lotteriegewinn wird auf Hartz – IV-Leistungen angerechnet

25. Januar 2011 - Essen. Der Lotteriegewinn eines Hartz- IV - Empfängers mindert seinen Anspruch auf Leistungen der Grundsicherung, weil der Gewinn darauf als Einkommen anzurechnen ist. Das hat das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen (LSG NRW) in einem jetzt veröffentlichten Urteil im Fall eines Hilfebedürftigen aus Bielefeld entschieden und damit ein Urteil des Sozialgerichts Detmold bestätigt. Der Kläger hatte in der Lotterie "Aktion Mensch“ 500 € gewonnen. Gegen die Anrechnung auf seine Hartz - IV - Leistungen in 2 Monatsbeträgen von 250 € hatte er erfolglos Widerspruch und Klage erhoben. Auch mit seiner Berufung drang er nicht durch. Die Essener Richter argumentierten, der Lotteriegewinn sei wie andere Glücksspielgewinne als Einkommen anzusehen.
Der Gewinn verringere damit die Hilfebedürftigkeit des Klägers. Der Kläger hatte eingewandt, er habe seit dem Jahr 2001 945 Euro - zuletzt monatlich 15 Euro - in sein Los investiert. Damit habe er unter dem Strich überhaupt keinen Gewinn, sondern Verluste erzielt. Dieses Argument ließen die Essener Richter nur für den letzten Monatsbetrag gelten. Lediglich die dafür gezahlten 15 Euro durfte der Kläger vom Gewinn von 500 Euro abziehen. Zwischen dem für die Monate und Jahre davor gezahlten Einsatz und dem Lotteriegewinn sah das Landessozialgericht dagegen keinen ausreichenden Zusammenhang.
(Urteil vom 13. 12. 2010 L 19 AS 77/09, Vorinstanz: SG Detmold, Urteil vom 23.10.2009, S 13 AS 3/09 nicht rechtskräftig).

Keine Befreiung vom Schwimmunterricht für moslemische Schülerin

20. Januar 2011 - Die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Aachen hat mit Beschluss vom 12. Januar 2011 im vorläufigen Rechtsschutzverfahren entschieden, dass sich eine 13jährige moslemische Schülerin nicht unter Berufung auf ihre religiöse Überzeugung vom Schwimmunterricht befreien lassen kann.
Die Eltern der Schülerin hatten vorgetragen, dass es ihrer Tochter aus religiösen Gründen nicht zuzumuten sei, am Schwimmunterricht teilzunehmen, weil dieser zeitgleich mit anderen gemischten Klassen in einem öffentlichen Schwimmbad stattfinde. Schwimmen und Baden mit dem anderen Geschlecht sei eine Verletzung ihrer hanefitisch-sunnitischen Glaubensvorschriften.
Die Kammer hat darauf verwiesen, dass das Schulgesetz zwar die Möglichkeit vorsehe, Schüler bei Vorliegen eines wichtigen Grundes von einzelnen Unterrichtsveranstaltungen zu befreien, wenn nur so eine unzumutbare Grundrechtsverletzung vermieden werde. Eine derartige Unzumutbarkeit konnte die Kammer allerdings nicht feststellen.
Der Schülerin stehe die Möglichkeit offen, sich durch Tragen eines sog. Burkinis - eine den gesamten Körper bedeckende Badebekleidung für muslimische Mädchen und Frauen - vor den Blicken anderer im Schwimmbad zu schützen. Dass die Teilnahme am Schwimmunterricht auch bei Nutzung eines solchen Burkinis gegen verbindliche religiöse Gebote ihrer Religionsgemeinschaft verstoße, sei nicht konkret dargelegt worden.
Gegen den Beschluss kann Beschwerde beim Oberverwaltungsgericht in Münster eingelegt werden.   Aktenzeichen 9 L 518/10

Nach dem Lebensalter gestaffelte Urlaubsansprüche verstoßen gegen das Verbot der Altersdiskriminierung

19. Januar 2011 - Die inzwischen 24-jährige Klägerin ist als Einzelhandelskauffrau bei einer Einzelhandelskette beschäftigt. Das Arbeitsverhältnis unterliegt dem Manteltarifvertrag Einzelhandel Nordrhein-Westfalen, wonach der jährliche Urlaubsanspruch bei einer 6-Tage-Woche nach dem Lebensalter wie folgt gestaffelt ist:
bis zum vollendeten 20. Lebensjahr 30 Urlaubstage
nach dem vollendeten 20. Lebensjahr 32 Urlaubstage
nach dem vollendeten 23. Lebensjahr 34 Urlaubstage
nach dem vollendeten 30. Lebensjahr 36 Urlaubstage
Das Landesarbeitsgericht Düsseldorf hat wie die Vorinstanz erkannt, dass die Klägerin durch diese Regelung wegen ihres Alters diskriminiert wird. Die nach dem Alter unterscheidende Regelung ist nicht gemäß § 10 des Allgemeinen Gleichbehandlungsgesetzes gerechtfertigt. Es fehlt an einem legitimen Ziel für diese Ungleichbehandlung, das im Tarifvertrag oder in dessen Kontext Anklang gefunden hat. Dies gilt insbesondere für das von der Arbeitgeberseite vorgebrachte Argument, mit der Regelung solle die Vereinbarkeit von Familie und Beruf gefördert werden.
Das Landesarbeitsgericht hat festgestellt, dass die Klägerin, der nach der tariflichen Regelung nur 34 Urlaubstage zuständen, wegen des Verstoßes gegen das Verbot der Altersdiskriminierung 36 Urlaubstage pro Jahr beanspruchen kann. Diese Angleichung nach oben entgegen der bestehenden tariflichen Regelung folgt aus dem Grundsatz der effektiven und wirksamen Durchsetzung von EU-Rechtsvorgaben.

Die Revision ist zugelassen.
ArbG Wesel, 6 Ca 736/10, Urteil vom 11.08.2010
LAG Düsseldorf, 8 Sa 1274/10, Urteil vom 18.01.2011
 

Die DB-Autozug GmbH muss Nutzungsbedingungen für die Verladestationen des Sylter Hindenburgdamms in Niebüll und Westerland aufstellen

13. Januar 2011 - Der 13. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat mit Beschluss vom 13. Januar 2011 eine Entscheidung zur Verpflichtung eines Eisenbahninfrastrukturunternehmens zum Aufstellen von Nutzungsbedingungen für dessen Serviceeinrichtungen (Personen- und Güterbahnhöfe) getroffen.
Die Insel Sylt ist nicht über eine Straßenverbindung zu erreichen. Stattdessen gibt es auf dem die Insel mit dem Festland verbindenden 11 km langen Hindenburgdamm eine Eisenbahnstrecke. Die DB-Autozug GmbH, die eine Tochter der DB AG ist, betreibt dort den „Sylt Shuttle“ genannten Autozug nebst den dazu gehörenden Verladestationen in Niebüll und Westerland (Sylt). Im Oktober 2010 gab die Bundesnetzagentur der DB-Autozug GmbH auf, für die von ihr betriebenen Verladestationen Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen aufzustellen, damit Wettbewerb auf dem Hindenburgdamm entstehen kann. Gegen diese Entscheidung erhob die DB-Autozug GmbH bei der Bundesnetzagentur Widerspruch. Ihr Eilantrag wurde vom Verwaltungsgericht Köln mit Beschluss vom 9. Dezember 2010 abgelehnt. Ihre Beschwerde gegen diesen Beschluss wies das Oberverwaltungsgericht nunmehr mit dem eingangs genannten Beschluss zurück.
Zur Begründung seiner Entscheidung hat der Senat ausgeführt: Die DB-Autozug GmbH habe Nutzungsbedingungen aufzustellen, weil in den Verladestationen Personen- und Güterverkehr betrieben werde und diese deshalb Serviceeinrichtungen im Sinne des Eisenbahnrechts seien. Die Rechtspflicht zur Aufstellung von Nutzungsbedingungen für Serviceeinrichtungen bestehe grundsätzlich unabhängig davon, ob und in welchem Umfang Serviceeinrichtungen für dritte Eisenbahnverkehrsunternehmen nutzbar seien. Ob eine gemeinsame Nutzung der Serviceeinrichtungen möglich sei, sei derzeit offen und müsse ggf. in einem nachrangigen Verfahren geklärt werden.
Der Beschluss des Oberverwaltungsgerichts ist unanfechtbar.
Aktenzeichen: 13 B 1818/10
 

Verwaltungsgericht stärkt Nichtraucherschutz  

6. Januar 2011 - Die 9. Kammer des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen bestätigte im Rahmen vorläufigen Rechtsschutzes eine Ordnungsverfügung des Oberbürgermeisters der Stadt Bottrop, mit der das Rauchverbot in einer Gaststätte durchgesetzt wurde.
Der Gaststättenbetreiber hatte auf einem zum Erdgeschoss offenen Galeriebereich im ersten Obergeschoss seines Lokals einen Raucherbereich eingerichtet und durch ein Schild an der Eingangstür seine Gaststätte zu einem Raucherclub erklärt.
Der Oberbürgermeister forderte den Gaststättenbetreiber durch eine Ordnungsverfügung dazu auf, die Vorschriften des Nichtraucherschutzgesetzes umzusetzen und das Rauchen in seiner Gaststätte zu unterbinden.

Die Kammer stellt in ihrem Beschluss klar, dass allein das Anbringen eines Schildes nicht ausreicht um einen Raucherclub im Sinne des Nichtraucherschutzgesetzes zu betreiben, sondern dass darüber hinaus greifbare Anhaltspunkte dafür vorhanden sein müssen, dass die Räumlichkeiten für Zusammenkünfte genutzt werden, die ausschließlich dem Genuss von Tabakwaren dienen. Ein Raucherclub fuße auf einer Mitgliedschaft der Clubmitglieder in einem Verein, der zur Förderung eines gemeinsamen Zwecks eingerichtet sei.
 Der Gaststättenbetreiber habe nicht dargelegt, dass ein solcher Verein überhaupt existiere. Auch in dem Lokal habe es nach den unbestrittenen Feststellungen der Ordnungsbehörde keine Anzeichen für einen solchen Verein, wie etwa Eingangskontrollen, Hinweise der Mitarbeiter an Gäste, dass der Zutritt nur Mitgliedern gestattet sei, oder Antragsformulare für eine Mitgliedschaft gegeben. Gegen die Einrichtung eines Raucherclubs spreche auch, dass lediglich im Obergeschoss geraucht werden dürfe, worauf auch auf einer Hinweistafel im Eingangsbereich hingewiesen werde.
Aufgrund der baulichen Gegebenheiten könne der Galeriebereich auch nicht als abgeschlossener Raucherbereich im Sinne des Gesetzes angesehen werden.
Der Beschluss ist rechtskräftig und wird in Kürze unter www.nrwe.de veröffentlicht.
Aktenzeichen: 9 L 1365/10
 

Oberlandesgericht: Düsseldorfer Tabelle 2011 mit höherem Selbstbehalt

4. Januar 2011 - Zum 01.01.2011 ist die neue „Düsseldorfer Tabelle“ in Kraft getreten. Der notwendige Selbstbehalt wird für Erwerbstätige, die für Kinder bis zum 21. Lebensjahr unterhaltspflichtig sind, von 900 € auf 950 € erhöht. Für nicht erwerbstätige Unterhaltsverpflichtete bleibt es bei dem bisherigen Betrag von 770 €.
Die Anpassung lehnt sich auch an die geplante, derzeit im Vermittlungsausschuss diskutierte Erhöhung der SGB II-Sätze („Hartz IV“) zum 01.01.2011 an. Sollten sich im laufenden Gesetzgebungsverfahren gravierende Änderungen ergeben, etwa die SGB II-Sätze deutlich erhöht werden, käme ggfs. eine weitere Anpassung des Selbstbehalts in Betracht.
Ferner sind die Selbstbehalte bei Unterhaltspflichten gegenüber Ehegatten, Mutter/Vater eines nichtehelichen Kindes, volljährigen Kinder oder Eltern angehoben worden:
 

Unterhaltspflicht gegenüber

Selbstbehalt bisher

Selbstbehalt ab 2011

Kindern bis 21 Jahre (im Haushalt eines Elternteils und allgemeine Schulausbildung),

Unterhaltspflichtiger erwerbstätig:

 

900 €

950 €

Kindern bis 21 Jahre (im Haushalt eines Elternteils und allgemeine Schulausbildung),

Unterhaltspflichtiger nicht erwerbstätig:

 

770 €

770 €

anderen volljährigen Kinder:

1.100 €

1.150 €

Ehegatte oder Mutter/Vater eines nichtehelichen Kindes:

1.000 €

1.050 €

Eltern:

1.400 €

1.500 €

Auch der Bedarfskontrollbetrag ist mit Jahresbeginn in jeder Einkommensgruppe um 50 € erhöht worden. Der Bedarfskontrollbetrag soll eine ausgewogene Verteilung des Einkommens zwischen dem Unterhaltspflichtigen und den unterhaltsberechtigten Kindern, Ehegatten und Eltern gewährleisten. Mit steigendem Einkommen des Unterhaltsverpflichteten soll ihm selbst auch ein höherer Betrag verbleiben.
Der Unterhaltsbedarf der Unterhaltsberechtigten bleibt gegenüber 2010 unverändert. Die Unterhaltsbeträge waren bereits mit der Düsseldorfer Tabelle 2010 um rund 13% erhöht worden. Lediglich der angemessene Gesamtunterhaltsbedarf eines Studierenden, der nicht bei seinen Eltern wohnt, wird von 640 € auf 670 € erhöht. Dieser Bedarfssatz kann auch für ein Kind mit eigenem Haushalt angesetzt werden. Durch die Erhöhung wird der Unterhaltsbedarf an den zum 01.10.2010 erhöhten BAföG-Höchstsatz angepasst.
In der Düsseldorfer Tabelle, die vom Oberlandesgericht Düsseldorf herausgegebenen wird, werden in Abstimmung mit den anderen Oberlandesgerichten und dem Deutschen Familiengerichtstag Unterhaltsleitlinien, u. a. Regelsätze für den Kindesunterhalt, festgelegt.

Einberufung zum Grundwehrdienst zum 1. Januar 2011 ist auch angesichts der Aussetzung der Wehrpflicht zum 1. Juli 2011 rechtmäßig

3. Januar 2011 - Die 4. Kammer des Verwaltungsgerichts Aachen hat mit Beschluss vom 30. Dezember 2010 im vorläufigen Rechtsschutzverfahren entschieden, dass die Einberufung zum Wehrdienst auch unter Berücksichtigung der zum 1. Juli 2011 vorgesehenen Aussetzung der Wehrpflicht derzeit rechtmäßig ist.
Der Antragsteller, ein Student im ersten Semester, hatte sich gegen die Einberufung zum 1. Januar 2011 gewehrt. Die Kammer konnte bei der gebotenen summarischen Prüfung nicht feststellen, dass der Einberufungsbescheid rechtswidrig ist. Das Wehrpflichtgesetz sieht erst für Studenten des dritten Fachsemesters die Möglichkeit vor, sich zurückstellen zu lassen.
Soweit andere Verwaltungsgerichte die Einberufung von Wehrpflichtigen unter Berufung auf die künftige Aussetzung der Wehrpflicht vorläufig zurückgestellt haben, handelt es sich um Sonderfälle, die angesichts der eindeutigen Rechtslage in dem hiesigen Verfahren nicht zum Vergleich herangezogen werden konnten.
Der Beschluss ist nach dem Wehrpflichtgesetz unanfechtbar.
Aktenzeichen 4 L 533/10

Finanzamt muss Konkurrenten Auskunft geben!
Ein Unternehmen, dessen Leistungen in Konkurrenz zu Leistungen eines als gemeinnützig anerkannten Vereins stehen, kann unter bestimmten Voraussetzungen vom Finanzamt Auskunft darüber verlangen, mit welchem Steuersatz die von dem Verein aus entsprechenden Tätigkeiten erzielten Umsätze besteuert worden sind. Dies hat der 15. Senat des Finanzgerichts Münster mit Urteil vom 7. Dezember 2010 entschieden (15 K 3614/07 U).
Die Klägerin, die gewerbsmäßig Blutkonserven, Blutproben und Organe transportiert, hatte Anlass zu der Annahme, dass der als gemeinnützig anerkannte Verein, der Vergleichbares tut, seine Transportleistungen lediglich mit dem ermäßigten Umsatzsteuersatz abrechnet und versteuert. Darin sah die Klägerin eine Wettbewerbsverzerrung. Zur Vorbereitung einer Konkurrentenklage wegen dieser nach ihrer Ansicht unzutreffenden Besteuerung des Vereins verlangte die Klägerin vom Finanzamt Auskunft darüber, wie die Transportumsätze des Vereins in den Streitjahren 2004 und 2005 besteuert worden waren.

Das Gericht gab der Klage statt. Ein Steuerpflichtiger habe einen Auskunftsanspruch hinsichtlich der Besteuerung des Konkurrenten, wenn er substantiiert und glaubhaft zweierlei darlege: Zum einen, dass er durch eine aufgrund von Tatsachen zu vermutende oder zumindest nicht mit hinreichender Sicherheit auszuschließende unzutreffende Besteuerung eines Konkurrenten konkret belegbare Wettbewerbsnachteile erleidet; zum anderen, dass er gegen die Steuerbehörde mit Aussicht auf Erfolg eine Konkurrentenklage erheben kann. Das Steuergeheimnis stehe diesem Anspruch nicht entgegen. Im Streitfall liege es nahe, dass die Transportleistungen des Vereins mit dem ermäßigten Steuersatz besteuert worden seien. Dies sei möglicherweise unzutreffend. Es könne jedenfalls nicht ausgeschlossen werden, dass der Verein seine Transportleistungen nicht im Rahmen eines begünstigten Zweckbetriebes (§ 65 AO, § 12 Abs. 2 Nr. 8a UStG) erbracht habe, da zwischen dem Verein und der Klägerin eine steuerschädliche Konkurrenzsituation bestanden habe. Es sei auch nachvollziehbar, dass die Klägerin durch eine Besteuerung des Vereins mit dem ermäßigten Steuersatz Wettbewerbsnachteile erleide. Nutzer der Transportleistungen seien im Wesentlichen nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Einrichtungen.
Zwar würden in der Regel die Rechte eines Steuerpflichtigen nicht dadurch verletzt, dass ein anderer Steuerpflichtiger zu niedrig besteuert werde. Anders sei dies allerdings, wenn die zu niedrige Besteuerung gegen eine Norm verstoße, die zumindest auch dem Schutz der Interessen Dritter dienen solle. Die im Streitfall möglicherweise einschlägige Regelung des § 65 Nr. 3 AO solle steuerlich nicht begünstigte Betriebe - wie die Klägerin - davor schützen, dass Mitbewerber, die aufgrund ihrer Zweckbestimmung grundsätzlich steuerlich begünstigt seien, auch bezüglich von ihnen getätigter Umsätze steuerlich begünstigt würden, die gerade nicht der Erfüllung ihrer die Steuerbegünstigung begründenden Zweckbestimmung dienten.
Der 15. Senat hat die Revision zum Bundesfinanzhof zugelassen.
 

Lehrer dürfen ohne disziplinarische Konsequenzen streiken

16. Dezember 2010 - In einem beim Verwaltungsgericht Düsseldorf anhängigen Verfahren klagte eine beamtete Lehrerin gegen eine Disziplinarverfügung der Bezirksregierung Köln. Diese hatte gegen die Klägerin eine Geldbuße in Höhe von 1.500,-- Euro verhängt, weil sie im Januar und Februar 2009 an drei Tagen an Warnstreiks der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft teilgenommen hatte.

Mit soeben verkündetem Urteil hat die 1. Landesdisziplinarkammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf diese Disziplinarverfügung aufgehoben. Zur Begründung führte der Vorsitzende in seiner mündlichen Urteilsbegründung aus: Bei der Teilnahme an den Warnstreiks handele es sich zwar um ein Dienstvergehen, weil es zu den im Grundgesetz verankerten Grundsätzen des Berufsbeamtentums gehöre, dass Beamte nicht streiken dürften.
Nach der neueren Rechtsprechung des Europäi-schen Gerichtshofs für Menschenrechte in Straßburg verstoße die Verhängung von Disziplinarmaßnahmen gegen bestimmte Beamtengruppen, insbesondere Lehrer, wegen Teilnahme an Streiks jedoch gegen die in der Europäischen Menschenrechtskonvention garantierte Koalitionsfreiheit. Diese Rechtsprechung sei im Rahmen der völkerrechtsfreundlichen Auslegung des Disziplinarrechts zu berücksichtigen.
Wegen der grundsätzlichen Bedeutung der Sache hat die Kammer die Berufung gegen das Urteil beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster zugelassen.     Aktenzeichen: 31 K 3904/10.O
 

Klage auf Erstattung von Schülerfahrtkosten wegen Taxifahrten abgewiesen

3. Dezember 2010 - Mit dem soeben in öffentlicher Sitzung verkündeten Urteil hat die 12. Kammer des Verwaltungsgerichts Düsseldorf die Klage einer alleinerziehenden Mutter und ihres 14-jährigen Sohnes abgewiesen, mit der sie die Verpflichtung des Bürgermeisters der Stadt Ratingen auf Erstattung von Schülerfahrtkosten für tägliche Taxifahrten des Sohnes vom Wohnort in Essen zu einer Schule in Ratingen begehrt, die er wegen einer emotionalen und sozialen Entwicklungsstörung besucht. In der mündlichen Urteilsbegründung führte der Vorsitzende im Wesentlichen aus, die Mutter könne ihr Kind morgens mit dem eigenen Pkw zur Schule bringen, deren Unterricht um 8.00 Uhr früh beginne. Die Rückfahrt zur Mittagszeit könne von ihr indes nicht geleistet werden, da sie zu dieser Tageszeit berufstätig sei. Die durch die Rückfahrt gegebenenfalls anfallenden Taxikosten in Höhe von 37,00 Euro täglich könne sie allerdings aus eigenen Mitteln bestreiten, da ihr Familieneinkommen insgesamt 3.700,00 Euro betrage.
Gegen dieses Urteil ist Antrag auf Zulassung der Berufung beim Oberverwaltungsgericht für das Land Nordrhein-Westfalen in Münster möglich.
Az. 12 K 4571/10

Oberverwaltungsgericht  An- und Ausziehen der Polizeiuniform ist keine Arbeit(szeit)
2. Dezember 2010 - Der 6. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat heute entschieden, dass die Zeit, die für das An- und Ablegen der Polizeiuniform erforderlich ist, nicht auf die Arbeitszeit anzurechnen ist.
Geklagt hatte u.a. ein Polizeibeamter, der im Wach- und Wechseldienst beim Polizeipräsidium Münster eingesetzt ist. Er verlangte vom beklagten Land, die Zeit, die für das An- und Ablegen der Polizeiuniform sowie der persönlich zugewiesenen Ausrüstungsgegenstände vor Schichtbeginn bzw. nach Schichtende erforderlich ist, als Arbeitszeit anzuerkennen. Dies lehnte das beklagte Land ab. Das Verwaltungsgericht Münster gab der Klage statt. Ebenso entschieden hatte das Verwaltungsgericht Aachen für mehrere beim Polizeipräsidium Aachen beschäftigte Beamte bezüglich der Polizeiuniform. Die dagegen gerichteten Berufungen des beklagten Landes hatten teilweise Erfolg.
Zur Begründung hat der 6. Senat ausgeführt, es sei eine Interessenbewertung erforderlich, die sich am beamtenrechtlichen Dienst- und Treueverhältnis zu orientieren habe und die dort bestehenden Rücksichtnahmepflichten nicht vernachlässigen dürfe. Diese führe zu dem Ergebnis, dass nur die Zeit, die für das An- und Ablegen der persönlich zugewiesenen Ausrüstungsgegenstände, nicht jedoch die Zeit, die für das An- und Ablegen der Polizeiuniform erforderlich sei, auf die Arbeitszeit angerechnet werden müsse. Während das Mitführen der persönlich zugewiesenen Ausrüstungsgegenstände allein in der Interessensphäre des Dienstherrn liege und nur der Herstellung der Einsatzbereitschaft diene, sei das An- und Ablegen der Polizeiuniform auch der Interessensphäre des Beamten zuzuordnen. Er habe die Möglichkeit, die Uniform bereits zu Hause anzuziehen. Wenn er davon Gebrauch mache, erspare er sich das Anlegen der ansonsten üblichen Zivilbekleidung. Ziehe er die Uniform - was ebenfalls möglich sei - erst in der Dienststelle an, so sei das seine eigene Entscheidung und der Arbeitszeit nicht hinzuzurechnen.
Die Revision wurde nicht zugelassen. Dagegen ist Nichtzulassungsbeschwerde möglich, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet.
(Aktenzeichen: 6 A 1546/10, 6 A 979/09 u.a.)
 

Oberlandesgericht Köln: Werbung für Spielgemeinschaften zum Deutschen Lotto- und Toto-Block im Internet und am Telefon unzulässig

22. November 2010 - Der 6. Zivilsenat des Oberlandesgerichts Köln hat die Werbung für die Zusammenführung von Spielinteressenten zu Spielgemeinschaften zum Deutschen Lotto- und Toto-Block im Internet und am Telefon in einem am 19. November 2010 verkündeten Urteil als unzulässig angesehen. Rechtsgrundlage für das Verbot ist § 4 Nr. 11 des Gesetzes gegen den unlauteren Wettbewerb (UWG) in Verbindung mit § 5 Abs. 3 des Glückspielstaatsvertrages (GlüStV).
Geklagt hatte ein Verbraucherschutzverein gegen eine in Deutschland niedergelassene und im deutschen Handelsregister eingetragene Personengesellschaft, die in deutscher Sprache telefonisch gegenüber einer Deutschen sowie gegenüber den Lesern ihrer Internetseite mit der Top-Level-Domain "de" für Spielgemeinschaften zum Deutschen Lotto- und Toto-Block geworben hatte.
Das Oberlandesgericht nimmt einen Verstoß der Werbung gegen das Werbeverbot aus § 5 Abs. 3 GlüStV an. Für den der Entscheidung zugrunde liegenden Fall stellt sich die Frage der Vereinbarkeit des Werbeverbots aus § 5 Abs. 3 GlüStV mit dem europäischen Gemeinschaftsrechts (Art. 49 des EG-Vertrages: Freiheit des Dienstleistungsverkehrs oder Art. 43 des EG-Vertrages: Niederlassungsfreiheit) nicht, weil es in Bezug auf die angegriffene Werbung der Beklagten an einem grenzüberschreitenden Sachverhalt fehlt. Nach Auffassung des Senats ist das Verhalten der Beklagten allein nach den für Inländer geltenden Regeln und damit nach § 5 Abs. 3 GlüStV zu beurteilen.
Unabhängig davon bejaht das Oberlandesgericht eine Vereinbarkeit des Verbots, für öffentliches Glücksspiel im Internet und Fernsehen sowie über Telekommunikationsanlagen zu werben (§ 5 Abs. 3 GlüStV), mit europäischem Recht. Für den 6. Zivilsenat folgt aus den Urteilen des Europäischen Gerichtshofs vom 08.09.2010 (Winner Wetten, Markus Stoß u.a. und Carmen Media) nicht, dass das deutsche Glücksspielrecht insgesamt europarechtswidrig und fortan öffentliches Glücksspiel und die Werbung dafür in Deutschland unbeschränkt zulässig wäre. Es könne insbesondere keine Rede davon sein, dass die von allen Glücksspielanbietern - in öffentlicher oder privater Trägerschaft - zu beachtenden allgemeinen Regeln wie das hier in Rede stehende Werbeverbot nach § 5 Abs. 3 GlüStV durch vorrangige europarechtliche Normen suspendiert wären.

Den Vorlageentscheidungen des Europäischen Gerichtshofs sei eine so weitreichende Wirkung schon deshalb nicht beizumessen, weil der Gerichtshof keine eigenen Feststellungen zu den maßgeblichen tatsächlichen Verhältnissen treffen konnte und entgegen der Annahme der vorlegenden Gerichte zum Zeitpunkt ihres Vorabentscheidungsersuchens derzeit nicht davon auszugehen sei, dass die staatlichen Stellen in Deutschland auf dem Glücksspielsektor eine Politik der Angebotsausweitung verfolgen.
Weder die gerade im Hinblick auf einen erhöhten Spielerschutz erfolgte Änderung der für gewerbliche Automatenspiele maßgebenden Spielverordnung noch die im Gesamtvergleich geringen Marktanteile der staatlich konzessionierten Spielkasinos und Anbieter von Pferdewetten belegten eine expansive Tendenz. Hinzu komme, dass der Gerichtshof zwar das Erfordernis einer insgesamt kohärenten Regelung betone, aber zugleich auf Differenzierungsmöglichkeiten hingewiesen habe, die sich aus dem Ermessen der Mitgliedsstaaten bei der Bestimmung des Niveaus des Verbraucherschutzes und des Schutzes der Sozialordnung im Glücksspielsektor ergeben.
Das Urteil ist nicht rechtskräftig. Der Senat hat die Revision nicht zugelassen, so dass eine Revision zum Bundesgerichtshof nur nach erfolgreicher Nichtzulassungsbeschwerde möglich wäre. Eine Nichtzulassungsbeschwerde ist binnen eines Monats nach Zustellung des Urteils einzulegen.
Das Urteil ist abrufbar unter www.nrwe.de.
Aktenzeichen:
OLG Köln 6 U 38/10
LG Köln, Urteil vom 04. Februar 2010 - 81 O 119/09
§ 5 Abs. 3 Glückspielstaatsvertrag (GlüStV): Werbung für öffentliches Glücksspiel ist im Fernsehen (§§ 7 und 8 Rundfunkstaatsvertrag), im Internet sowie über Telekommunikationsanlagen verboten.
§ 4 Nr. 11 Gesetz über den unlauteren Wettbewerb (UWG): Unlauter handelt insbesondere, wer einer gesetzlichen Vorschrift zuwiderhandelt, die auch dazu bestimmt ist, im Interesse der Marktteilnehmer das Marktverhalten zu regeln.

Verwaltungsgericht Köln: Verbot von Sportwetten vor dem 1.1.2008 rechtswidrig
Das Verwaltungsgericht Köln hat mit drei heute verkündeten Urteilen den Klagen von privaten Sportwettenvermittlern entsprochen, die gegen die Untersagung ihrer Tätigkeit geklagt haben.
Die von dem Gericht aufgehobenen Ordnungsverfügungen waren auf der Grundlage des bis zum 1. Januar 2008 geltenden Sportwettengesetzes NRW ergangen. Das Verwaltungsgericht ist - mit Blick auf die Rechtsprechung des Europäischen Gerichtshofs - der Auffassung, dass die zum damaligen Zeitpunkt geltenden Regelungen über das Sportwettenmonopol keine Anwendung finden, weil sie mit der europarechtlich verbürgten Dienstleistungsfreiheit nicht vereinbar seien.
Gegen die Urteile ist innerhalb eines Monats nach Zustellung der Entscheidungsgründe ein Antrag auf Zulassung der Berufung bei dem Oberverwaltungsgericht in Münster möglich.
Aktenzeichen: 1 K 3293/07, 1 K 33562/07 und 1 K 3497/06

Landgericht Bonn: Anklage wegen NS-Massenverbrechen: Angeschuldigter verstorben
In dem beim Landgericht Bonn gegen einen 89-jährigen gebürtigen Wolgadeutschen anhängigen Verfahren wegen des Vorwurfes der Beteiligung an NS-Massenverbrechen im Vernichtungslager Belzec liegt der für das Verfahren zuständigen Staatsanwaltschaft Dortmund sowie dem Gericht die Ablichtung einer Sterbeurkunde vom 22.11.2010 vor. Demnach ist der Angeschuldigte am 18.11.2010 verstorben.
Wegen der Einzelheiten des Anklagevorwurfes wird auf die Pressemitteilung vom 29.07.2010 verwiesen. Bei Tod eines Angeschuldigten ist das Verfahren einzustellen.

Landessozialgericht: Pflege-TÜV bleibt in NRW umstritten

16. November 2010 - Das Landessozialgericht Nordrhein-Westfalen in Essen (LSG NRW) hat heute einen Eilbeschluss des Sozialgerichts Münster aufgehoben, mit dem die Veröffentlichung der Pflegenoten (sog. Transparenzbericht) über ein Alten- und Pflegeheim in Bocholt aus verfassungsrechtlichen Erwägungen bis zur rechtskräftigen Entscheidung in der Hauptsache untersagt worden war.

Das Heim hatte bei einer Prüfung durch die Landesverbände der Pflegekassen aus dem Mittelwert der 64 Einzelkriterien lediglich die Gesamtnote 4,3 erhalten.
Das System der Pflegenoten und ihre Veröffentlichung im Internet ist nach Ansicht des LSG NRW rechtmäßig, wenn die Noten auf einer neutralen, objektiven und sachkundigen Qualitätsprüfung des zuständigen medizinischen Dienstes der Krankenkassen (MDK) basieren. Bewusste Fehlurteile oder Verzerrungen seien im Fall des beschwerdeführenden Pflegeheimes nicht erkennbar.
Das Pflegeheim hatte unzutreffende Feststellungen des MDK uA im Hinblick auf Hygiene und Sauberkeit angeführt. Die Einrichtung sei zu schlecht bewertet worden. Dadurch entstünden ihr Wettbewerbsnachteile sowie ein nicht wieder gutzumachender Reputationsschaden.
Demgegenüber hat das LSG die angeführten Falschbewertungen im Rahmen des einstweiligen Rechtsschutzverfahrens nicht als glaubhaft gemacht angesehen. Ob die Mängel im Einzelfall bereits beseitigt seien, sei unerheblich. Es sei auf den Prüfungszeitpunkt abzustellen und der Transparenzbericht stelle insoweit eine Momentaufnahme dar.
Soweit bemängelt werde, dass es derzeit noch keine pflege - wissenschaftliche Grundlage für die Beurteilung der Pflegequalität gebe, ist das LSG dem Einwand nicht beigetreten. Dies bedeute nicht, dass dadurch die Gütequalität des Verfahrens in Frage gestellt werde. Der Gesetzgeber habe den schnellen Einsatz des von ihm neu geschaffenen Instruments zur Transparenzherstellung trotz der bestehenden Unsicherheiten gewollt, diese bewusst in Kauf genommen und das Informations-bedürfnis der Pflegebedürftigen in den Vordergrund gestellt.
Der Beschluss ist rechtskräftig (Beschluss vom 15.11.2010, 10 P 76/10 B ER; Vorinstanz SG Münster, S 6 P 35/10 ER SG).
Die Rechtsansicht des LSG NRW über die Rechtmäßigkeit der Pflegebenotung teilen inzwischen eine Reihe weiterer Landessozialgericht in Deutschland (so Bayrisches LSG, Hessisches LSG, LSG Sachsen, LSG Sachsen-Anhalt) Lediglich das LSG Berlin-Brandenburg hält den Pflege-TÜV grundsätzlich für rechtswidrig.
Das LSG NRW wird am 15.12.2010 ab 11:15 Uhr über die Berufung der Landesverbände der Pflegekassen und damit erstmals über ein Hauptsacheverfahren zum Thema Transparenzbericht entscheiden. Der Fall betrifft ebenfalls das Alten- und Pflegeheim aus Bocholt.
 

Private Wettbüros in NRW bleiben vorerst weiterhin geschlossen

15. November 2010 - Der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts hat mit Eilbeschluss vom heutigen Tage entschieden, dass die Ordnungsbehörden in NRW vorerst weiterhin gegen private Wettbüros vorgehen dürfen. Nach vorläufiger Einschätzung spreche nach wie vor vieles dafür, dass solche Betriebe gegen das staatliche Sportwettenmonopol verstießen.
In der Sache hat der Senat damit seine bisherige Rechtsprechung fortgeführt (vgl. Pressemitteilung vom 13. März 2008).
Entgegen anders lautender Meldungen habe der Europäische Gerichtshof den deutschen Glücksspielstaatsvertrag in seinen Urteilen vom 8. September 2010 nicht für europarechtswidrig erklärt. Zwar habe der EuGH darin hervorgehoben, dass das staatliche Monopol auf Sportwetten die Niederlassungs- und Dienstleistungsfreiheit verletzen könne, wenn der Staat zugleich andere Glücksspielbereiche mit hohem Suchtpotential privaten Anbietern überlasse und deren Betätigung fördere. Die abschließende Prüfung, ob dies vor allem im Hinblick auf Geldspielautomaten in Spielhallen und Gaststätten der Fall sei, habe der EuGH aber den deutschen Verwaltungsgerichten überlassen.
Insoweit kommt das Oberverwaltungsgericht in seinem jetzigen Eilbeschluss zu dem Ergebnis, dass dem Gesetzgeber - vorbehaltlich der Überprüfung in einem Hauptsacheverfahren - voraussichtlich nicht vorgeworfen werden könne, er verfolge bei Sportwetten einerseits und den gewerblichen Geldspielautomaten andererseits widersprüchliche Strategien.
Allerdings deuteten neuere wissenschaftliche Untersuchungen darauf hin, dass die im Jahr 2006 erfolgten Neuregelungen für gewerbliche Automatenspiele zu einer Ausweitung dieses Marktes und zu einer Zunahme des Suchtpotentials geführt hätten. Hierauf müsse der Gesetzgeber gegebenenfalls reagieren. Gegenwärtig lasse sich nicht feststellen, dass er hierzu nicht bereit sei.
Die Entscheidung betrifft eine private Sportwettenvermittlerin in Lünen. Beim Senat sind zahlreiche gleich gelagerte Fälle aus anderen Städten und Gemeinden des Landes anhängig.
Der Beschluss des 4. Senats des Oberverwaltungsgerichts ist unanfechtbar.
Az.: 4 B 733/10