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April 2024 |
Konsumcannabisgesetz –
Bundesgerichtshof setzt Grenzwert der nicht geringen Menge
für Tetrahydrocannabinol (THC) auf 7,5 g fest
Karlsruhe, 23. April 2024 - Das Landgericht Ulm hatte die
Angeklagten A. und M. wegen Betäubungsmitteldelikten im
Zusammenhang mit dem Betrieb einer Marihuanaplantage nach der
bisher geltenden Rechtslage jeweils zu einer Freiheitsstrafe
von vier Jahren und sechs Monaten verurteilt.
Auf
der Grundlage der vom Landgericht getroffenen Feststellungen
hat der 1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im
Verfahren über die Revisionen der beiden Angeklagten
entsprechend den zum 1. April 2024 in Kraft getretenen
Bestimmungen des Konsumcannabisgesetzes (KCanG) im
Schuldspruch jeweils neu gefasst. Zudem hat er den Grenzwert
der nicht geringen Menge i.S. von § 34 Abs. 3 Satz 2 Nr. 4
KCanG auf 7,5 g Tetrahydrocannabinol (THC) festgesetzt.
Infolge des gegenüber der bisherigen Rechtslage
niedrigeren Strafrahmens des § 34 Abs. 3 Satz 1 KCanG hat der
1. Strafsenat des Bundesgerichtshofs das Urteil im
Strafausspruch aufgehoben und insoweit zur erneuten
Strafbemessung an eine andere Strafkammer des Landgerichts
zurückverwiesen. Beschluss vom 18. April 2024 - 1 StR 106/24
Vorinstanz: LG Ulm - Urteil vom 18. Dezember 2023
- 2 KLs 73 Js 9434/23 Die maßgeblichen Vorschriften des KCanG
lauten: § 34 Strafvorschriften (1) Mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder Geldstrafe wird bestraft, wer 1. entgegen §
2 Absatz 1 Nummer 1 a)… b)…. c) mehr als drei lebende
Cannabispflanzen besitzt, 2. … a)…. b)…. 3. …. 4.
entgegen § 2 Absatz 1 Nummer 4 mit
Cannabis Handel treibt, …. (3) In besonders schweren Fällen
ist die Strafe Freiheitsstrafe von drei Monaten bis zu fünf
Jahren. Ein besonders schwerer Fall liegt in der Regel vor,
wenn der Täter 1. … 2. … 3. … 4.
eine Straftat nach
Absatz 1 begeht und sich die Handlung auf eine nicht geringe
Menge bezieht. § 2 Umgang mit Cannabis (1) Es ist verboten,
1. Cannabis zu besitzen, 2. Cannabis anzubauen, 3. Cannabis
herzustellen, 4. mit Cannabis Handel zu treiben,
Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde
eines Journalisten gegen die gerichtliche Untersagung einer
kritischen Äußerung über die Bundesregierung
Karlsruhe, 16. April 2024 - Mit heute veröffentlichtem
Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des
Bundesverfassungsgerichts der Verfassungsbeschwerde eines
Journalisten stattgeben. Dieser wendet sich gegen eine
einstweilige Verfügung, durch die ihm eine kritische Äußerung
gegenüber der Bundesregierung untersagt wurde.
Im
August 2023 veröffentlichte der Beschwerdeführer auf der
Kommunikationsplattform „X“ die Kurznachricht „Deutschland
zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!)
Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!). Wir leben im
Irrenhaus, in einem absoluten, kompletten, totalen,
historisch einzigartigen Irrenhaus. Was ist das nur für eine
Regierung?!“. In der Kurznachricht verlinkt war der Artikel
eines Online-Nachrichtenmagazins mit der Überschrift
„Deutschland zahlt wieder Entwicklungshilfe für Afghanistan“.
Das Kammergericht untersagte dem Beschwerdeführer
auf Antrag der Bundesregierung die Äußerung „Deutschland
zahlte in den letzten zwei Jahren 370 MILLIONEN EURO (!!!)
Entwicklungshilfe an die TALIBAN (!!!!!!).“
Die
Äußerung sei eine unwahre Tatsachenbehauptung, die geeignet
sei, das Vertrauen der Bevölkerung in die Tätigkeit der
Bundesregierung zu gefährden. Hiergegen wendet sich dieser
mit seiner Verfassungsbeschwerde.
Die
Entscheidung des Kammergerichts verletzt den Beschwerdeführer
in seinem Grundrecht auf Meinungsfreiheit aus Art. 5 Abs. 1
Grundgesetz (GG). Sie verfehlt erkennbar den Sinn der
angegriffenen Äußerung und deren Charakter einer
Meinungsäußerung. Der Staat hat grundsätzlich auch
scharfe und polemische Kritik auszuhalten. Indem das
Kammergericht für seine Beurteilung die in der Kurznachricht
wiedergegebene Schlagzeile ausblendet, verharrt seine
Sinndeutung auf einer isolierten Betrachtung des
Kurznachrichtentextes.
Verwaltungsgericht
Aachen: Hautkrebs-Erkrankung eines Polizisten keine
Berufskrankheit Aachen, 15. April 2024 - Ein
ehemaliger Polizist hat keinen Anspruch auf Anerkennung
seiner Hautkrebserkrankung als Berufskrankheit infolge früher
wahrgenommener Tätigkeiten u.a. im Streifendienst. Das hat
das Verwaltungsgericht Aachen mit heute verkündetem Urteil
entschieden.
Der Kläger begründete seine Klage
damit, er sei während seiner nahezu 46-jährigen Dienstzeit zu
erheblichen Teilen im Außendienst eingesetzt gewesen, ohne
dass sein Dienstherr ihm Mittel zum UV-Schutz zur Verfügung
gestellt oder auch nur auf die Notwendigkeit entsprechender
Maßnahmen hingewiesen habe. Infolgedessen leide er unter
Hautkrebs am Kopf, im Gesicht und an den Unterarmen.
Das Verwaltungsgericht hat die Ablehnung der
Anerkennung als Berufskrankheit durch das LKA NRW bestätigt.
Zur Begründung hat der Vizepräsident des Verwaltungsgerichts
Markus Lehmler als Vorsitzender u.a. ausgeführt: Die
Voraussetzungen für eine Anerkennung als Dienstunfall liegen
hier nicht vor. Erforderlich ist im Fall von durch
UV-Strahlung ausgelöstem Hautkrebs, dass der betroffene
Beamte bei der Ausübung seiner Tätigkeit der Gefahr der
Erkrankung besonders ausgesetzt ist, d.h. das
Erkrankungsrisiko aufgrund der dienstlichen Tätigkeit in
entscheidendem Maß höher als das der Allgemeinbevölkerung
ist.
Davon kann bei Polizeibeamten im Außendienst
nicht die Rede sein. Polizisten bewegen sich im Außendienst
in unterschiedlichen örtlichen Begebenheiten und nicht nur
bei strahlendem Sonnenschein im Freien. Zudem gibt es keine
Referenzfälle, obwohl das Thema Hautkrebs durch UV-Strahlung
bereits seit Jahrzehnten bekannt ist. Gegen das Urteil kann
der Kläger einen Antrag auf Zulassung der Berufung stellen,
über den das Oberverwaltungsgericht in Münster entscheidet.
Aktenzeichen: 1 K 2399/23
Erfolgreiches Organstreitverfahren
wegen Nichtvorlage von Akten an den "PUA II –
Hochwasserkatastrophe" Verfassungsgerchtshof
Münster, 9. April 2024 - Die Ministerin für Heimat,
Kommunales, Bau und Digitalisierung des Landes
Nordrhein-Westfalen Ina Scharrenbach hat einen Beweisbeschluss zur Vorlage von
Akten an den Parlamentarischen Untersuchungsausschuss II der
18. Wahlperiode des nordrheinwestfälischen Landtags ("PUA II
– Hochwasserkatastrophe") nur unzureichend erfüllt und
dadurch die sich aus der Landesverfassung ergebenden Rechte
der Ausschussminderheit verletzt.
Das hat der
Verfassungsgerichtshof für das Land Nordrhein-Westfalen in
Münster mit einem heute verkündeten Urteil entschieden. Der
"PUA II – Hochwasserkatastrophe" soll mögliche Versäumnisse,
Fehleinschätzungen und mögliches Fehlverhalten der damaligen
Landesregierung, insbesondere der zuständigen Ministerien
sowie der ihnen nachgeordneten Behörden während der
Hochwasserkatastrophe untersuchen, die sich Mitte Juli 2021
insbesondere im Ahrtal und im Süden Nordrhein-Westfalens
ereignet hatte. Er setzt die Arbeit des PUA V der 17.
Wahlperiode fort.
Mit Beweisbeschlusses Nr. 13
forderte der Untersuchungsausschuss im November 2022 unter
anderem bei der Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und
Digitalisierung die in ihrem Geschäftsbereich vorhandenen
Akten und sonstigen Unterlagen an, die mit dem
Untersuchungsauftrag im Zusammenhang stehen. Die Ministerin
legte daraufhin zehn Blatt Akten vor. Eine Vorlage weiterer
Akten lehnte sie mit der Begründung ab, dass der
Untersuchungsauftrag ausdrücklich auf die Phase während der
Hochwasserkatastrophe beschränkt sei und damit lediglich den
Zeitraum vom Einsetzen des Starkregens bis zum Abfließen der
Wassermassen erfasse.
Die Antragstellerin, die im
PUA II eine qualifizierte Minderheit bestehend aus den drei
stimmberechtigten Mitgliedern der SPD-Fraktion bildet, hat im
März 2023 vor dem Verfassungsgerichtshof ein
Organstreitverfahren gegen die Ministerin (Antragsgegnerin)
eingeleitet. Sie ist der Auffassung, der Text des aktuellen
Untersuchungsauftrags müsse vor dem Hintergrund des bereits
in der 17. Legislaturperiode ausgetragenen Konflikts um
dessen Reichweite interpretiert werden. So sei der Terminus
"zur Abwehr von Gefahren" aus dem Untersuchungsauftrag des
PUA V der 17. Legislaturperiode ausdrücklich gestrichen
worden, um den Untersuchungsauftrag auszuweiten.
Eine enge zeitliche Beschränkung sei mit diesem
Erweiterungsgedanken nicht zu vereinbaren. Die
Antragsgegnerin hält demgegenüber an ihrer Argumentation fest
und macht darüber hinaus geltend, dass der zugrundeliegende
Beweisbeschluss Nr. 13 zu unbestimmt sei.
Mit dem heute verkündeten Urteil hat der
Verfassungsgerichtshof der Organklage der Antragstellerin
stattgegeben. In ihrer mündlichen Urteilsbegründung hat die
Präsidentin des Verfassungsgerichtshofs Prof. Dr. Dr. h.c.
Dauner-Lieb unter anderem ausgeführt: Die Antragsgegnerin
verletzt durch ihre Weigerung das Untersuchungsrecht der
Antragstellerin aus Art. 41 Abs. 1 Satz 2 i. V. m. Art. 41
Abs. 2 Satz 3 LV.
Bei der Auslegung des
Beweisbeschlusses ergibt sich, dass der Untersuchungsauftrag
zeitlich nicht auf den Zeitraum bis zum Abfließen der
Wassermassen beschränkt ist, sondern die Zeit vom 9. Juli bis
zum 9. September 2021 erfasst. Denn dieser
Untersuchungszeitraum wurde durch den Landtag im
Einsetzungsbeschluss explizit festgehalten. Die weiteren
Auslegungsmethoden führen zu keinem anderen Ergebnis.
Insbesondere spricht der historische Kontext gegen die von
der Antragsgegnerin vorgenommene zeitliche Einschränkung.
Die Rüge der Antragsgegnerin, der Beweisbeschluss Nr.
13 sei nicht hinreichend bestimmt, ist im vorliegenden
Verfahren nicht Gegenstand der gerichtlichen Entscheidung.
Aufgrund des Grundsatzes der Organtreue hätte sie bereits
vorprozessual ihre Entscheidung hiermit begründen müssen,
damit die Antragstellerin die Berechtigung der
Vorlageverweigerung insoweit hätte nachvollziehen und
rechtliche Schritte prüfen können. Artikel 41 Absatz 1 Satz 1
und 2 LV
Der Landtag hat das Recht und auf Antrag
von einem Fünftel der gesetzlichen Zahl seiner Mitglieder die
Pflicht, Untersuchungsausschüsse einzusetzen. Diese
Ausschüsse erheben in öffentlicher Verhandlung die Beweise,
die sie oder die Antragsteller für erforderlich erachten.
Artikel 41 Absatz 2 LV Die Gerichte und Verwaltungsbehörden
sind zur Rechts- und Amtshilfe verpflichtet. Sie sind
insbesondere verpflichtet, dem Ersuchen dieser Ausschüsse um
Beweiserhebungen nachzukommen. Die Akten der Behörden und
öffentlichen Körperschaften sind ihnen auf Verlangen
vorzulegen. Aktenzeichen: VerfGH 31/23
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Februar 2024 |
Abschuss der Wölfin Gloria im
Kreis Wesel bleibt gestoppt: Oberverwaltungsgericht weist
Beschwerden des Kreises zurück - Die drei Beschlüsse sind
unanfechtbar Münster, 9. Februar 2024 - Die
Wölfin Gloria, für die der Kreis Wesel im Dezember 2023 eine
bis zum 15.02.2024 befristete naturschutzrechtliche
Ausnahmegenehmigung zum Abschuss der unter strengem
Artenschutz stehenden Wölfin Gloria erteilt hat, darf
weiterhin nicht abgeschossen werden. Das hat das
Oberverwaltungsgericht heute mit drei Beschlüssen
entschieden.
Der Kreis hatte seine für sofort
vollziehbar erklärte Ausnahmegenehmigung damit begründet,
dass der Abschuss von Gloria erforderlich sei, um zu
verhindern, dass diese weiterhin Weidetiere reiße und damit
ernste landwirtschaftliche Schäden verursache. Auf die
Anträge von drei Naturschutzverbänden stoppte das
Verwaltungsgericht Düsseldorf die Vollziehung der
Ausnahmegenehmigung mit Beschlüssen vom 17.01.2024. Zur
Begründung führte es aus, der Kreis habe nicht schlüssig
dargelegt, dass durch das Rissverhalten von Gloria ernste
landwirtschaftliche Schäden drohten.
Die
hiergegen gerichteten Beschwerden des Kreises hat das
Oberverwaltungsgericht nunmehr zurückgewiesen und damit den
Stopp der Vollziehung der Ausgenehmigung zum Abschuss von
Gloria bestätigt. Zur Begründung hat der 21. Senat des
Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Eine Vollziehung der
Ausnahmegenehmigung kommt nicht in Betracht, weil diese an
mehreren Fehlern leidet. Der Kreis hat nicht dargelegt, dass
Gloria ein problematisches, auf geschützte Weidetiere
ausgerichtetes Jagdverhalten zeigt.
Ferner ist
die Schadensprognose des Kreises defizitär, weil sich aus ihr
der Umfang der angenommenen zukünftigen Schäden nicht ergibt.
Dies macht auch die Ermessensausübung des Kreises fehlerhaft,
weil die von ihm vorgenommene Abwägung zwischen
artenschutzrechtlichen und wirtschaftlichen Belangen ohne
Benennung des Umfangs der zukünftigen Schäden nicht brauchbar
ist.
Schließlich liegt auf der Hand, dass sich
der Erhaltungszustand der lokalen Wolfspopulation im
Westmünsterland durch den Abschuss von Gloria verschlechtert,
weil dadurch der Umfang der Population um ein Drittel
reduziert wird und zudem Gloria das einzige
fortpflanzungsfähige Weibchen ist. Der vom Kreis angenommene
Ausgleich in Gestalt des Zuzugs eines anderen Weibchens ist
lediglich spekulativ. Auch bei einer reinen
Vollzugsfolgenabwägung wäre die Vollziehung der
Ausgenehmigung zu stoppen.
Der Abschuss von
Gloria bedingte einen endgültigen artenschutzrechtlichen
Schaden, der auch nicht ohne Weiteres kompensierbar wäre. Der
auf der anderen Seite zu berücksichtigende
landwirtschaftliche Schaden in Gestalt gerissener Weidetiere
würde dagegen aufgrund bestehender Entschädigungsregelungen
für Nutztierhalter kompensiert. Die damit einhergehende
Belastung der Steuern zahlenden Allgemeinheit erscheint
vergleichsweise marginal.
Die drei Beschlüsse des
Oberverwaltungsgerichts sind unanfechtbar. Aktenzeichen:
21 B 74/24, 21 B 75/24, 21 B 76/24 (I. Instanz: VG Düsseldorf
28 L 3333/23, 28 L 3345/23, 28 L 3349/23)
Zulässigkeit von baulichen
Veränderungen des Gemeinschaftseigentums zur
Barrierereduzierung Urteile vom 9. Februar 2024 – V ZR 244/22
und V ZR 33/23
Karlsruhe, 9. Februar 2024 -
Der unter anderem für das Wohnungseigentumsrecht zuständige
V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat
heute auf der Grundlage des im Jahr 2020 reformierten
Wohnungseigentumsrechts in zwei Verfahren über die
Voraussetzungen und Grenzen baulicher Veränderungen des
Gemeinschaftseigentums entschieden, die von einzelnen
Wohnungseigentümern als Maßnahmen zur Barrierereduzierung
(Errichtung eines Personenaufzugs bzw. Errichtung einer 65
Zentimeter erhöhten Terrasse nebst Zufahrtsrampe) verlangt
wurden.
Verfahren V ZR 244/22 Sachverhalt: Die
Kläger sind Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der
Wohnungseigentümer. Die Anlage besteht aus zwei zwischen 1911
und 1912 im Jugendstil errichteten Wohnhäusern und steht
unter Denkmalschutz. Das Vorderhaus erhielt im Jahr 1983 den
Fassadenpreis der Stadt München. Die Wohneinheiten der Kläger
befinden sich im dritten und vierten Obergeschoss des
Hinterhauses (ehemaliges "Gesindehaus"), bei dem die Fassade
und das enge Treppenhaus im Vergleich zum Vorderhaus eher
schlicht gehalten sind.
Ein Personenaufzug ist
nur für das Vorderhaus vorhanden. In der
Eigentümerversammlung vom 26. Juli 2021 wurde unter anderem
ein Antrag der nicht körperlich behinderten Kläger abgelehnt,
ihnen auf eigene Kosten die Errichtung eines Außenaufzugs am
Treppenhaus des Hinterhauses als Zugang für Menschen mit
Behinderungen zu gestatten. Mit der Beschlussersetzungsklage
wollen die Kläger erreichen, dass die Errichtung des
Personenaufzugs dem Grunde nach beschlossen ist. Bisheriger
Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat die Klage abgewiesen.
Auf die Berufung der Kläger hat das Landgericht durch
Urteil den Beschluss ersetzt, dass am Hinterhaus auf der zum
Innenhof gelegenen Seite ein Personenaufzug zu errichten ist.
Dagegen wendet sich die Beklagte mit der von dem Landgericht
zugelassenen Revision. Entscheidung des Bundesgerichtshofs:
Der Bundesgerichtshof hat die Revision zurückgewiesen. Dem
liegen folgende Erwägungen zugrunde: Mit einem
Grundlagenbeschluss, den das Berufungsgericht
ersetzt hat, wird eine verbindliche Regelung über die
Errichtung des von den Klägern begehrten Personenaufzuges für
das Hinterhaus begründet und die spätere Durchführung
legitimiert. Der Klage ist zu Recht stattgegeben worden, weil
der geltend gemachte Anspruch gemäß § 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1
WEG auf eine Beschlussfassung besteht und nach § 20 Abs. 4
WEG die Grenzen einer zulässigen Bebauung eingehalten werden.
Bedenken gegen die Beschlusskompetenz bestehen
nicht. Nach dem seit dem 1. Dezember 2020 geltenden
Wohnungseigentumsrecht können die Wohnungseigentümer eine
bauliche Veränderung grundsätzlich auch dann beschließen,
wenn die Beschlussfassung die Zuweisung einer
ausschließlichen Nutzungsbefugnis (§ 21 Abs. 1 Satz 2 WEG) an
dem dafür vorgesehenen Gemeinschaftseigentum zur Folge hat,
wie dies hier hinsichtlich des Aufzugs der Fall ist.
Die von den Klägern erstrebte Errichtung eines
Personenaufzugs stellt eine angemessene bauliche Veränderung
dar, die dem Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen dient
(§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG). Die Angemessenheit
ist nur ausnahmsweise zu verneinen, wenn mit der Maßnahme
Nachteile verbunden sind, die über die Folgen hinausgehen,
die typischerweise mit der Durchführung einer privilegierten
baulichen Veränderung einhergehen. Eingriffe in die
Bausubstanz, übliche Nutzungseinschränkungen des
Gemeinschaftseigentums und optische Veränderungen der Anlage
etwa aufgrund von Anbauten können die Unangemessenheit daher
regelmäßig nicht begründen.
Die Kosten der
baulichen Veränderung sind für das Bestehen eines Anspruchs
nach § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG grundsätzlich ohne Bedeutung, da
sie gemäß § 21 Abs. 1 Satz 1 WEG von dem verlangenden
Wohnungseigentümer zu tragen sind. Vor diesem Hintergrund
bejaht das Berufungsgericht zu Recht die Angemessenheit der
Maßnahme. Weiterer Vortrag war von den Klägern nicht zu
verlangen. Zwar trägt die Darlegungs- und Beweislast für die
tatsächlichen Umstände der Angemessenheit einer baulichen
Veränderung der klagende Wohnungseigentümer.
Da
der Gesetzgeber aber die Angemessenheit als Regel ansieht,
obliegt der Gemeinschaft der Wohnungseigentümer die
Darlegung, warum ein atypischer Fall vorliegt. Hieran fehlt
es. Eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage im Sinne
von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG, die dem Anspruch
entgegenstehen könnte, ist mit der Errichtung eines Aufzugs
nicht verbunden. Insoweit ist zunächst zu beachten, dass
nicht jede bauliche Veränderung, die nach § 22 Abs. 2 Satz 1
WEG aF die Eigenart der Wohnanlage änderte, auch im Sinne des
neuen § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG zu einer grundlegenden
Umgestaltung führt.
Nach nunmehr
geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der
Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage
zumindest typischerweise nicht anzunehmen. Der von dem
Gesetzgeber im gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten
Privilegierung bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter
anderem zur Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der
Prüfung, ob eine grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne
eines Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen.
Außergewöhnliche Umstände, die eine solche Ausnahme
von der Regel begründen könnten, liegen auf der Grundlage der
Feststellungen des Berufungsgerichts nicht vor. Es lässt sich
auch keine unbillige Benachteiligung eines
Wohnungseigentümers im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2
WEG feststellen. Mit dem Verbot, einen Wohnungseigentümer
ohne sein Einverständnis gegenüber anderen unbillig zu
benachteiligen, knüpft das Gesetz an die Regelung in § 22
Abs. 2 Satz 1 WEG aF zu den Grenzen der Zulässigkeit von
Modernisierungsmaßnahmen an.
Die von dem
Berufungsgericht insoweit vorgenommene tatrichterliche
Würdigung weist keine Rechtsfehler auf. Hierbei ist auch zu
berücksichtigen, dass Verschattungen- und
Lärmbeeinträchtigungen etwa durch den konkreten Standort der
Aufzugsanlage, durch die Größe sowie die bauliche Gestaltung
des Aufzugs einschließlich der verwendeten Materialien bis zu
einem gewissen Grad noch bei der Entscheidung über die Art
und Weise der Durchführung (§ 20 Abs. 2 Satz 2 WEG) steuerbar
sind.
Verfahren V ZR 33/23 Sachverhalt:
Die Kläger und die Streithelferin der Beklagten sind
Mitglieder der beklagten Gemeinschaft der Wohnungseigentümer.
Die Anlage besteht aus drei miteinander verbundenen Häusern
mit jeweils zwei Wohnungen im Erdgeschoss und zwei weiteren
Wohnungen im ersten Obergeschoss. Im rückwärtigen Teil des
Anwesens befindet sich eine Gartenfläche, an der den
Erdgeschosswohnungen zugewiesene Sondernutzungsrechte
gebildet wurden. Nach der Teilungserklärung dürfen auf den
Gartenflächen Terrassen in der Größe von maximal einem
Drittel der Fläche des jeweiligen Sondernutzungsrechts
errichtet werden. Mit Ausnahme der den beiden Eckwohnungen
zugewiesenen Gartenflächen wurden jeweils gepflasterte
Terrassen errichtet.
Auf Antrag der
Streithelferin, die Sondereigentümerin einer der Eckwohnungen
ist, beschlossen die Wohnungseigentümer in der
Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021, der
Streithelferin als privilegierte Maßnahme gemäß § 20 Abs. 2
WEG zu gestatten, auf der Rückseite des Gebäudes eine Rampe
als barrierefreien Zugang sowie eine etwa 65 Zentimeter
aufzuschüttende Terrasse zu errichten und das Doppelfenster
im Wohnzimmer durch eine verschließbare Tür zu ersetzen; ggf.
soll ein aus Bodenplatten bestehender Zugang vom Hauseingang
bis zur Terrasse errichtet werden. Hiergegen richtet sich die
von den Klägern erhobene Anfechtungsklage.
Bisheriger Prozessverlauf: Das Amtsgericht hat den Beschluss
für ungültig erklärt. Die Berufung der Beklagten war
erfolglos. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision
will die Streithelferin die Abweisung der Klage erreichen.
Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Die Revision hat Erfolg
gehabt. Der Bundesgerichtshof hat das Berufungsurteil
aufgehoben und die Anfechtungsklage abgewiesen.
Dabei hat er sich von folgenden Erwägungen leiten lassen:
Beschließen die Wohnungseigentümer die Durchführung oder
Gestattung einer baulichen Veränderung, die ein
Wohnungseigentümer unter Berufung auf § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
verlangt, hängt die Rechtmäßigkeit des Beschlusses entgegen
der Ansicht des Berufungsgerichts nicht davon ab, ob die
Anspruchsvoraussetzungen des § 20 Abs. 2 WEG im Einzelnen
vorliegen und ob die bauliche Veränderung insbesondere
angemessen ist. Auf diese Voraussetzungen kommt es nur an,
wenn der Individualanspruch des Wohnungseigentümers abgelehnt
worden ist und sich dieser mit einer Anfechtungsklage gegen
den Negativbeschluss wendet und/oder den Anspruch mit der
Beschlussersetzungsklage weiterverfolgt, wie dies in dem
Verfahren V ZR 244/22 der Fall war. Der Gesetzgeber hat durch
das Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetz die Vorschriften
über bauliche Veränderungen in §§ 20, 21 WEG neu gefasst und
grundlegend geändert.
Die Neuregelung
dient unter anderem dem Zweck, den baulichen Zustand von
Wohnungseigentumsanlagen leichter verbessern und an sich
ändernde Gebrauchsbedürfnisse der Wohnungseigentümer anpassen
zu können. Nunmehr können
die Wohnungseigentümer nach § 20 Abs. 1 WEG im Gegensatz zu
der Regelung in § 22 WEG aF Maßnahmen, die über die
ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums
hinausgehen (bauliche Veränderungen), jeweils mit einfacher
Stimmenmehrheit beschließen. Sie müssen dabei
lediglich die Grenzen des § 20 Abs. 4 Halbs. 1 WEG, die bei
jeder baulichen Veränderung einzuhalten sind, beachten.
Infolgedessen dürfen die Wohnungseigentümer eine bauliche
Veränderung auch dann durch Mehrheitsbeschluss gestatten,
wenn sie die in § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG geregelten
Anspruchsvoraussetzungen im Einzelnen nicht als gegeben
ansehen oder jedenfalls Zweifel hieran hegen.
Da
das Berufungsgericht zu Unrecht auf die Voraussetzungen des §
20 Abs. 2 WEG abgestellt hatte und es keiner weiteren
Feststellungen bedurfte, konnte nunmehr der Bundesgerichtshof
abschließend darüber entscheiden, ob mit der gestatteten
baulichen Veränderung eine grundlegende Umgestaltung der
Wohnanlage im Sinne von § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 1 WEG
verbunden ist. Diese Frage hat er verneint. Nach nunmehr
geltendem Recht ist bei einer Maßnahme, die der
Verwirklichung eines Zweckes i.S.d. § 20 Abs. 2 Satz 1 WEG
dient, eine grundlegende Umgestaltung der Wohnanlage
zumindest typischerweise nicht anzunehmen.
Der von dem Gesetzgeber im
gesamtgesellschaftlichen Interesse erstrebten Privilegierung
bestimmter Kategorien von Maßnahmen - unter anderem zur
Förderung der Barrierefreiheit - ist bei der Prüfung, ob eine
grundlegende Umgestaltung vorliegt, im Sinne eines
Regel-Ausnahme-Verhältnisses Rechnung zu tragen. Da die von
den Wohnungseigentümern hier beschlossene bauliche
Veränderung ihrer Kategorie nach dem Gebrauch durch Menschen
mit Behinderung dient (§ 20 Abs. 2 Satz 1 Nr. 1 WEG),
bedürfte es besonderer Umstände, um eine grundlegende
Umgestaltung der Wohnanlage anzunehmen. Hieran fehlt es.
Gestattet wird der Streithelferin lediglich die
Errichtung eines untergeordneten Anbaus an ein bestehendes
Gebäude einer Mehrhausanlage, wobei die Errichtung einer
Terrasse schon nach der Teilungserklärung erlaubt ist. Weil
der in der Eigentümerversammlung vom 14. Oktober 2021
gefasste Beschluss auch im Übrigen keine Mängel aufweist,
konnte in der Sache abschließend entschieden und die Klage
abgewiesen werden. Durch
die Gestattung der baulichen Veränderung wird kein
Wohnungseigentümer gegenüber anderen unbillig benachteiligt
i.S.d. § 20 Abs. 4 Halbs. 1 Alt. 2 WEG. Der
Beschluss ist auch hinreichend bestimmt.
Vorinstanzen: V ZR 244/22 AG München - Urteil vom 10. Februar
2022 - 1294 C 13970/21 WEG LG München I - Urteil vom 8.
Dezember 2022 - 36 S 3944/22 WEG V ZR 33/23 AG Bonn - Urteil
vom 15. August 2022 - 211 C 47/21 LG Köln - Urteil vom 26.
Januar 2023 - 29 S 136/22 Die maßgeblichen Vorschriften
lauten: § 20 WEG Bauliche Veränderungen (1) Maßnahmen, die
über die ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen
Eigentums hinausgehen (bauliche Veränderungen, können
beschlossen oder einem Wohnungseigentümer durch Beschluss
gestattet werden. (2) Jeder Wohnungseigentümer kann
angemessene bauliche Veränderungen verlangen, die 1. dem
Gebrauch durch Menschen mit Behinderungen, 2. - 4. [...]
dienen.
Über die Durchführung ist im Rahmen
ordnungsmäßiger Verwaltung zu beschließen. (3) Unbeschadet
des Absatzes 2 kann jeder Wohnungseigentümer verlangen, dass
ihm eine bauliche Veränderung gestattet wird, wenn alle
Wohnungseigentümer, deren Rechte durch die bauliche
Veränderung über das bei einem geordneten Zusammenleben
unvermeidliche Maß hinaus beeinträchtigt werden,
einverstanden sind.
(4) Bauliche Veränderungen, die
die Wohnanlage grundlegend umgestalten oder einen
Wohnungseigentümer ohne sein Einverständnis gegenüber anderen
unbillig benachteiligen, dürfen nicht beschlossen und
gestattet werden; sie können auch nicht verlangt werden. § 21
WEG Nutzungen und Kosten bei baulichen Veränderungen (1) Die
Kosten einer baulichen Veränderung, die einem
Wohnungseigentümer gestattet oder die auf sein Verlangen nach
§ 20 Absatz 2 durch die Gemeinschaft der Wohnungseigentümer
durchgeführt wurde, hat dieser Wohnungseigentümer zu tragen.
Nur ihm gebühren die Nutzungen. (2) bis (5) […] §
22 WEG aF Besondere Aufwendungen, Wiederaufbau (1) [...] (2)
Maßnahmen gemäß Absatz 1 Satz 1, die der Modernisierung
entsprechend § 555b Nummer 1 bis 5 des Bürgerlichen
Gesetzbuches oder der Anpassung des gemeinschaftlichen
Eigentums an den Stand der Technik dienen, die Eigenart der
Wohnanlage nicht ändern und keinen Wohnungseigentümer
gegenüber anderen unbillig beeinträchtigen, können abweichend
von Absatz 1 durch eine Mehrheit von drei Viertel aller
stimmberechtigten Wohnungseigentümer im Sinne des § 25 Abs. 2
und mehr als der Hälfte aller Miteigentumsanteile beschlossen
werden. […]
Bundesgerichtshof legt Gerichtshof
der Europäischen Union Fragen zur weiteren Klärung des
Begriffs der öffentlichen Wiedergabe vor
Karlsruhe, 8. Februar 2024 - I ZR 34/23 ("Seniorenwohnheim")
und I ZR 35/23 Der unter anderem für das Urheberrecht
zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs
hat dem Gerichtshof der Europäischen Union Fragen vorgelegt,
mit denen geklärt werden soll, ob der Betreiber eines
Seniorenwohnheims, der über eine Satellitenempfangsanlage
empfangene Rundfunkprogramme durch ein Kabelnetz an die
Heimbewohner weitersendet, eine öffentliche Wiedergabe
vornimmt.
Sachverhalt: Die Klägerinnen sind
Verwertungsgesellschaften, die die urheberrechtlichen
Nutzungsrechte von Musikurhebern (I ZR 34/23) und
Sendeunternehmen (I ZR 35/23) wahrnehmen. Die Beklagte
betreibt ein Senioren- und Pflegezentrum. In dessen
Pflegebereich wohnen in 88 Einzel- und 3 Doppelzimmern auf
Dauer 89 pflegebedürftige Seniorinnen und Senioren, die
umfassend pflegerisch versorgt und betreut werden. Zusätzlich
zum Pflegebereich verfügt die Einrichtung über verschiedene
Gemeinschaftsbereiche wie Speisesäle und Aufenthaltsräume.
• Die Beklagte empfängt über
eine eigene Satellitenempfangsanlage Rundfunkprogramme
(Fernsehen und Hörfunk) und sendet diese zeitgleich,
unverändert und vollständig durch ihr Kabelnetz an die
Anschlüsse für Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der
Heimbewohner weiter. Die Klägerinnen sehen in der
Weitersendung der Rundfunkprogramme einen Eingriff in die von
ihnen wahrgenommenen urheberrechtlichen Nutzungsrechte und
haben die Beklagte deshalb - erfolglos - zum Abschluss von
Lizenzverträgen aufgefordert.
• Bisheriger Prozessverlauf:
In beiden Verfahren hat das Landgericht den Klagen
stattgegeben und der Beklagten dem Antrag der Klägerin
entsprechend die Weitersendung der Rundfunkprogramme
untersagt. Auf die Berufung der Beklagten hat das
Oberlandesgericht die Klagen abgewiesen. Die Weitersendung
der Rundfunkprogramme erfülle nicht die Voraussetzungen einer
öffentlichen Wiedergabe, weil sich die Wiedergabe auf den
begrenzten Personenkreis der Bewohner der Einrichtung
beschränke, die - ähnlich den Mitgliedern einer
Wohnungseigentümergemeinschaft - einen strukturell sehr
homogenen und auf dauernden Verbleib in der Einrichtung
ausgerichteten stabilen Personenkreis mit eher niedriger
Fluktuation bildeten.
• Die Gemeinschaftsräume böten
die Möglichkeit zu gemeinsamen Mahlzeiten, persönlichem
Austausch und sozialem Miteinander der Bewohner. Anders als
in einem Hotel oder einer Reha-Einrichtung bestehe durch die
Wahl der Heimeinrichtung als Wohnung für den letzten
Lebensabschnitt zwischen den Bewohnern eine enge
Verbundenheit. Mit ihren Revisionen verfolgen die Klägerinnen
ihre Klageanträge weiter.
• Die Entscheidung des
Bundesgerichtshofs: In dem Verfahren I ZR 34/23 hat der
Bundesgerichtshof dem Gerichtshof der Europäischen Union drei
Fragen zur Auslegung des in Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2001/29/EG zur Harmonisierung bestimmter Aspekte des
Urheberrechts und der verwandten Schutzrechte in der
Informationsgesellschaft enthaltenen Begriffs der
öffentlichen Wiedergabe vorgelegt.
Zunächst soll
durch den Gerichtshof der Europäischen Union geklärt werden,
ob es sich bei den Bewohnern eines kommerziell betriebenen
Seniorenwohnheims, die in ihren Zimmern über Anschlüsse für
Fernsehen und Hörfunk verfügen, an die der Betreiber des
Seniorenwohnheims über eine eigene Satellitenempfangsanlage
empfangene Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und
vollständig durch sein Kabelnetz weitersendet, im Sinne der
Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen Union zum
Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3 Abs. 1 der
Richtlinie 2001/29/EG um eine "unbestimmte Anzahl
potentieller Adressaten" (die - wie etwa Gäste eines Hotels
oder Patienten eines Rehabilitationszentrums - eine
Öffentlichkeit bilden können) oder um "besondere Personen,
die einer privaten Gruppe angehören" (die keine
Öffentlichkeit bilden) handelt.
• Fraglich ist außerdem, ob
die bisher vom Gerichtshof der Europäischen Union verwendete
Definition, wonach die Einstufung als "öffentliche
Wiedergabe" im Sinne von Art. 3 Abs. 1 der Richtlinie
2001/29/EG erfordert, dass "die Wiedergabe des geschützten
Werks unter Verwendung eines technischen Verfahrens, das sich
von dem bisher verwendeten unterscheidet (wie hier die
Kabelweitersendung eines über eine Satellitenempfangsanlage
empfangenen Rundfunkprogramms), oder ansonsten für ein neues
Publikum erfolgt, das heißt für ein Publikum, an das der
Inhaber des Urheberrechts nicht gedacht hatte, als er die
ursprüngliche öffentliche Wiedergabe seines Werks erlaubte",
weiterhin allgemeine Gültigkeit hat, oder ob das verwendete
technische Verfahren nur noch in Fällen Bedeutung hat, in
denen eine Weiterübertragung von zunächst terrestrisch,
satelliten- oder kabelgestützt empfangenen Inhalten (anders
als im Streitfall) in das offene Internet stattfindet.
• Ferner ist bislang nicht
eindeutig geklärt, ob es sich um ein "neues Publikum" im
Sinne der Rechtsprechung des Gerichtshofs der Europäischen
Union zum Begriff der "öffentlichen Wiedergabe" gemäß Art. 3
Abs. 1 der Richtlinie 2001/29/EG handelt, wenn der zu
Erwerbszwecken handelnde Betreiber eines Seniorenwohnheims
über eine eigene Satellitenempfangsanlage empfangene
Rundfunkprogramme zeitgleich, unverändert und vollständig
durch sein Kabelnetz an die vorhandenen Anschlüsse für
Fernsehen und Hörfunk in den Zimmern der Heimbewohner
weitersendet.
• Fraglich ist insbesondere,
ob es für diese Beurteilung von Bedeutung ist, ob die
Bewohner unabhängig von der Kabelsendung die Möglichkeit
haben, die Fernseh- und Rundfunkprogramme in ihren Zimmern
terrestrisch zu empfangen, sowie, ob die Rechtsinhaber
bereits für die Zustimmung zur ursprünglichen Sendung eine
Vergütung erhalten.
• Das Verfahren I ZR 35/23 hat
der Bundesgerichtshof bis zu einer Entscheidung des
Gerichtshofs der Europäischen Union in dem Verfahren I ZR
34/23 ausgesetzt.
Vorinstanzen: I ZR 34/23 LG
Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 272/21 OLG
Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 101/22 und I ZR
35/23 LG Frankenthal - Urteil vom 13. Juli 2022 - 6 O 318/21
OLG Zweibrücken - Urteil vom 16. März 2023 - 4 U 102/22
• Die maßgeblichen
Vorschriften lauten: § 15 Abs. 2 Satz 1 und 2 Nr. 3 UrhG
Der Urheber hat … das ausschließliche
Recht, sein Werk in unkörperlicher Form öffentlich
wiederzugeben (Recht der öffentlichen Wiedergabe). Das Recht
der öffentlichen Wiedergabe umfasst insbesondere … 3. das
Senderecht § 20 UrhG Das Senderecht ist das Recht, das Werk
durch Funk, wie Ton- und Fernsehrundfunk, Satellitenrundfunk,
Kabelfunk oder ähnliche technische Mittel, der Öffentlichkeit
zugänglich zu machen. § 20b Abs. 1 Satz 1 UrhG Das Recht, ein
gesendetes Werk im Rahmen eines zeitgleich, unverändert und
vollständig weiterübertragenen Programms weiterzusenden
(Weitersendung), kann nur durch eine Verwertungsgesellschaft
geltend gemacht werden. Art. 3 Abs. 1 Richtlinie 2001/29/EG
Die Mitgliedstaaten sehen vor, dass den Urhebern
das ausschließliche Recht zusteht, die drahtgebundene oder
drahtlose öffentliche Wiedergabe ihrer Werke … zu erlauben
oder zu verbieten.
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Januar 2024 |
Klage der Deutschen Umwelthilfe
zur Fortschreibung des Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz
von Gewässern vor Verunreinigung durch Nitrat erfolglos
Münster, 25. Januar 2024 - Die Deutsche Umwelthilfe e. V.
(DUH) hat mit ihrer Klage zur Verpflichtung der
Bundesrepublik Deutschland, den düngebezogenen Teil des
Nationalen Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor
Verunreinigung durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen
fortzuschreiben, keinen Erfolg. Das hat das
Oberverwaltungsgericht heute entschieden.
Die
europarechtliche Richtlinie 91/676/EWG, die sogenannte
"Nitratrichtlinie", bezweckt die Verringerung und Vorbeugung
von Gewässerverunreinigungen und gibt insbesondere einen
maximalen Nitratwert für das Grundwasser von 50 mg/l vor. Sie
verpflichtet die Mitgliedsstaaten, Aktionsprogramme
aufzustellen, die die Maßnahmen zur Verwirklichung der Ziele
der "Nitratrichtlinie" festlegen. Diese Aktionsprogramme sind
alle vier Jahre fortzuschreiben.
Die DUH begehrte
mit ihrer Klage die Verpflichtung der Bundesrepublik
Deutschland, den düngebezogenen Teil des Nationalen
Aktionsprogramms zum Schutz von Gewässern vor Verunreinigung
durch Nitrat aus landwirtschaftlichen Quellen
fortzuschreiben. Sie vertrat die Auffassung, dass die
beklagte Bundesrepublik Deutschland ihren Verpflichtungen aus
der "Nitratrichtlinie" nicht nachgekommen sei. Insbesondere
würden die bislang vorgesehenen Pflichtmaßnahmen nicht
entsprechend den besten verfügbaren wissenschaftlichen
Erkenntnissen umgesetzt und es seien keine wirksamen
zusätzlichen Maßnahmen ergriffen worden, um die Ziele der
"Nitratrichtlinie" zu verwirklichen.
Mit ihrer
Klage hatte die DUH keinen Erfolg. Zur Begründung seiner
Entscheidung führte der 20. Senat im Wesentlichen aus: Die
Klage der DUH ist zwar zulässig. So ist die DUH nach den
Regeln des Umweltrechtsbehelfsgesetzes (UmwRG) klagebefugt.
Die DUH kann auch eine Fortschreibung des Nationalen
Aktionsprogramms zum Gegenstand eines Klageverfahrens machen
- eine im deutschen Recht noch recht neue, dem Europarecht
entstammende Form staatlichen Handelns.
Die Klage hat aber keinen Erfolg,
da die DUH mit ihrem Klagevorbringen nach § 7 Abs. 3 UmwRG
ausgeschlossen (präkludiert) ist. Nach dieser Vorschrift kann
eine Umweltschutzvereinigung wie die DUH in bestimmten
Umweltangelegenheiten - wie hier in Bezug auf das Nationale
Aktionsprogramm - zwar klagen, ist aber im gerichtlichen
Verfahren mit allen Einwendungen ausgeschlossen, die sie
während der Öffentlichkeitsbeteiligung nicht oder nicht
rechtzeitig geltend gemacht hat, aber hätte geltend machen
können.
Diese Bestimmung findet auf die Klage der
DUH Anwendung und ist mit dem nationalen Verfassungsrecht,
mit europarechtlichen Vorgaben und mit dem völkerrechtlichen
"Übereinkommen über den Zugang zu Informationen, die
Öffentlichkeitsbeteiligung an Entscheidungsverfahren und den
Zugang zu Gerichten in Umweltangelegenheiten", der
sogenannten "Aarhus Konvention", vereinbar.
Die
Voraussetzungen für das Eingreifen dieser Vorschrift liegen
vor, weil sich die DUH zwar gemeinsam mit anderen
Umweltschutzvereinigungen im Rahmen von
Öffentlichkeitsbeteiligungen zu Änderungen des Nationalen
Aktionsprogramms geäußert hat, allerdings nicht so
hinreichend substantiiert und umfangreich, wie es nach den
gesetzlichen Vorgaben erforderlich gewesen wäre.
Da die DUH mit ihrem Klagevorbringen schon ausgeschlossen
ist, hatte das Oberverwaltungsgericht nicht darüber zu
entscheiden, ob das Nationale Aktionsprogramm im Hinblick auf
die "Nitratrichtlinie" aktuell hinreichende Maßnahmen
beinhaltet. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision zum
Bundesverwaltungsgericht wegen der grundsätzlichen Bedeutung
zugelassen.
Aktenzeichen: 20 D 8/19.AK
Die Partei Die Heimat (vormals
NPD) ist für die Dauer von sechs Jahren von der staatlichen
Parteienfinanzierung ausgeschlossen
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Mit
heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des
Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Partei Die
Heimat (HEIMAT, vormals: Nationaldemokratische Partei
Deutschlands – NPD) für die Dauer von sechs Jahren von der
staatlichen Finanzierung nach § 18 Parteiengesetz (PartG)
ausgeschlossen ist. Art. 21 Abs. 3 Satz 1 Grundgesetz (GG)
sieht den Ausschluss verfassungsfeindlicher Parteien von der
staatlichen Teilfinanzierung vor.
Ausgeschlossen
sind Parteien, die nach ihren Zielen oder dem Verhalten ihrer
Anhänger darauf ausgerichtet sind, die freiheitliche
demokratische Grundordnung zu beeinträchtigen oder zu
beseitigen oder den Bestand der Bundesrepublik Deutschland zu
gefährden. Auf dieser Grundlage beantragten Bundestag,
Bundesrat und Bundesregierung, die Partei Die Heimat von der
staatlichen Parteienfinanzierung auszuschließen.
Die Voraussetzungen eines Finanzierungsausschlusses gemäß
Art. 21 Abs. 3 Satz 1 GG liegen vor: Die Partei Die Heimat
missachtet die freiheitliche demokratische Grundordnung und
ist nach ihren Zielen und dem Verhalten ihrer Mitglieder und
Anhänger auf deren Beseitigung ausgerichtet. Sie zielt auf
eine Ersetzung der bestehenden Verfassungsordnung durch einen
an der ethnischen „Volksgemeinschaft“ ausgerichteten
autoritären Staat.
Ihr politisches Konzept
missachtet die Menschenwürde aller, die der ethnischen
„Volksgemeinschaft“ nicht angehören, und ist zudem mit dem
Demokratieprinzip unvereinbar. Dass die Partei Die Heimat auf
die Beseitigung der freiheitlichen demokratischen
Grundordnung ausgerichtet ist, wird insbesondere durch ihre
Organisationsstruktur, ihre regelmäßige Teilnahme an Wahlen
und sonstigen Aktivitäten sowie durch ihre Vernetzung mit
nationalen und internationalen Akteuren des
Rechtsradikalismus belegt. Die Entscheidung ist einstimmig
ergangen.
Bundesratspräsidentin Manuela
Schwesig zum NPD/Die Heimat-Urteil des
Bundesverfassungsgerichts: Die Instrumente der wehrhaften
Demokratie wirken Berlin, 23. Januar 2024 - Auf
Antrag von Bundestag, Bundesrat und Bundesregierung hat das
Bundesverfassungsgericht heute die Partei NPD/Die Heimat von
der staatlichen Finanzierung ausgeschlossen.
Bundesratspräsidentin Manuela Schwesig begrüßt das Urteil:
„Parteien, die sich gegen die Demokratie und unsere
Verfassung wenden, dürfen kein Geld vom Staat erhalten. Dies
hat das Bundesverfassungsgericht bestätigt.
Das
Urteil zeigt - die Instrumente der wehrhaften Demokratie
wirken und schützen unsere verfassungsrechtliche Ordnung im
Sinne der Mütter und Väter des Grundgesetzes. Nun muss
geprüft werden, welche Konsequenzen für die AfD gezogen
werden können, die bereits in Teilen als rechtsextrem
eingestuft ist."
Verfassungsfeindlichkeit belegt
Bundesrat, Bundestag und Bundesregierung konnten in dem
Gerichtsverfahren darlegen, dass die Verfassungsfeindlichkeit
der NPD, die sich bei Identitätswahrung zwischenzeitlich in
„Die Heimat" umbenannt hat, unverändert fortbesteht.
Gemeinsam hatten die drei Verfassungsorgane im Juli 2019
einen Antrag auf Ausschluss der Partei von der staatlichen
Parteienfinanzierung nach Artikel 21 Absatz 3 des
Grundgesetzes beim Bundesverfassungsgericht eingebracht.
Im Zuge des zuvor vom Bundesrat initiierten
Parteienverbotsverfahrens hatte das Bundesverfassungsgericht
im Januar 2017 festgestellt, dass die NPD gegen die
Menschenwürde verstößt, den Kern des Demokratieprinzips
missachtet und eine Wesensverwandtschaft mit dem historischen
Nationalsozialismus aufweist. Mit der Begründung, dass ihr
das Potential fehle, ihre verfassungsfeindlichen Ziele auch
zu verwirklichen, verbot das Gericht die Partei damals jedoch
nicht.
Auch Steuerprivilegien fallen weg
Die NPD hatte nach dem Urteil im Verbotsverfahren 2017 noch
einige Jahre jährlich bis zu sechsstellige Beträge aus
unmittelbarer staatlicher Parteienfinanzierung erhalten und
profitiert bis heute von den damit verbundenen
Steuerprivilegien. Angesichts mangelnder Wahlerfolge sind
diese Zahlungen 2021 ausgelaufen. Jedoch erhält die Partei
vergleichsweise hohe Mitgliedsbeiträge und bis zu 700.000
Euro Spenden pro Jahr sowie Erbschaften, die bisher
vollständig steuerfrei waren. Auch dieses Steuerprivileg ist
mit dem heutigen Tag weggefallen.
Verlegung der Termine zur mündlichen Verhandlung in Sachen
AfD gegen Bundesamt für Verfassungsschutz
Münster, 23. Januar 2024 - Das Oberverwaltungsgericht wird in
den Verfahren der Alternative für Deutschland (AfD) gegen die
Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für
Verfassungsschutz (BfV), nicht im Februar, sondern am
12.03.2024 und ggf. am 13.03.2024, beginnend jeweils um 9.00
Uhr, in der Halle des Oberverwaltungsgerichts mündlich
verhandeln. Soweit nach dem Verlauf der mündlichen
Verhandlung möglich, wird der Senat am Ende der letzten
Sitzung eine Entscheidung verkünden.
Mit der
Verlegung der ursprünglich für den 27.02.2024 und ggf.
28.02.2024 angesetzten Termine kommt der Senat einem Antrag
der AfD nach, den diese mit Blick auf umfangreiche Unterlagen
gestellt hat, die das BfV Anfang des Jahres übermittelt hat.
In den drei Berufungsverfahren geht es um die Einstufung der
AfD als Verdachtsfall nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz
(Aktenzeichen 5 A 1218/22), die Einstufung des sogenannten
„Flügel“ als Verdachtsfall und als „gesichert extremistische
Bestrebung“ (5 A 1216/22) sowie um die Einstufung der Jungen
Alternative für Deutschland (Junge Alternative) als
Verdachtsfall (5 A 1217/22).
Beim
Verwaltungsgericht Köln hatten die Klagen im März 2022
überwiegend keinen Erfolg. Das Oberverwaltungsgericht
verhandelt über die Berufungen der AfD und der Jungen
Alternative. Weitere Informationen zum
Akkreditierungsverfahren für Medienvertreter wird das
Oberverwaltungsgericht voraussichtlich Mitte Februar 2024
veröffentlichen. Platzreservierungen für interessierte
Bürgerinnen und Bürger wird es voraussichtlich nicht geben.
Aktenzeichen: 5 A 1216/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K
207/20), 5 A 1217/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 208/20), 5 A
1218/22 (I. Instanz: VG Köln 13 K 326/21)
Bundesgerichtshof entscheidet über Verurteilung wegen
Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot ("Geeinte deutsche
Völker und Stämme") Beschluss vom 14. November
2023 - 3 StR 141/23
Karlsruhe, 23. Januar 2024 - Das
Landgericht Lüneburg hat die Angeklagte mit Urteil vom 22.
November 2022 wegen Verstoßes gegen ein Vereinigungsverbot in
Tateinheit mit Verwenden von Kennzeichen verfassungswidriger
Organisationen, Volksverhetzung und Missbrauch von
Berufsbezeichnungen zu einer Freiheitsstrafe von drei Jahren
und sechs Monaten verurteilt. Außerdem hat es unter Verweis
auf die Anklageschrift nicht näher bezeichnete Gegenstände
eingezogen. Das Landgericht hat festgestellt, dass die
Angeklagte 2016 federführend die Organisation "Geeinte
deutsche Völker und Stämme" (GdVuSt) gründete.
In
der Überzeugung, dass die Bundesrepublik Deutschland kein
Staat sei, sondern nur ein "Handelskonstrukt" ohne
"Legitimität", beabsichtigte die Gruppe, ein eigenes
staatliches System auf einem Territorium in den Grenzen des
Deutschen Reichs von 1871 bis 1914 zu errichten. Alle, die
nicht "deutscher Abstammung" sind, sollten entrechtet und
vertrieben werden. Gegen Zahlung von 500 € stellte die GdVuSt
sogenannte Lebendbekundungen aus, durch die Interessenten ihr
beitreten und sich von der Bundesrepublik Deutschland als
Staat lossagen konnten. G
anze geographische
Regionen sollten durch eine von der Vereinigung beurkundete,
ebenfalls gebührenpflichtige "Erhebung naturstaatlicher
Landschaften" Teil der GdVuSt werden können. Im Frühjahr 2020
verbot das Bundesinnenministerium die Organisation sowie die
Nutzung ihrer Kennzeichen wegen Verstoßes gegen die
verfassungsgemäße Ordnung. Gleichwohl setzte die Angeklagte
ihr Wirken als zentrale Führungsfigur der in ihrer
ideologischen Ausrichtung unveränderten GdVuSt fort. Sie
verbreitete die Vereinsideologie auf Veranstaltungen und warb
dafür im Internet unter Nutzung der verbotenen Symbole.
Außerdem stellte sie weiter die genannten Urkunden
aus, wodurch sie im Tatzeitraum wenigstens 80.000 €
vereinnahmte. Als "Generalbevollmächtigte" der GdVuSt
beziehungsweise "Rechtsanwältin Dr. Wonneberger" auftretend,
verfasste und verbreitete die Angeklagte zudem Texte, in
denen sie unter anderem jüdische und muslimische Mitbürger
als "unmoralische, unethische Wesen" bezeichnete und ihnen
ihr Existenzrecht als gleichwertige Personen der deutschen
Gesellschaft absprach. Zuletzt zählte die Gruppe etwa 500
Mitglieder.
Auf Telegram folgten der Angeklagten
über 2.000 Nutzer. Der für Staatsschutzsachen zuständige 3.
Strafsenat des Bundesgerichtshofs hat die hiergegen
gerichtete Revision der Angeklagten verworfen, was den
Schuldspruch angeht. Diesen hat er lediglich sprachlich dahin
präzisiert, dass die Angeklagte den Verstoß gegen das
Vereinigungsverbot "als Rädelsführer" beging. Den
Rechtsfolgenausspruch hat er auf Antrag des
Generalbundesanwalts aufgehoben.
Der
Einziehungsausspruch hat rechtlicher Überprüfung nicht
standgehalten, weil die einzuziehenden Objekte in der
Urteilsformel nicht hinreichend bezeichnet sind, unklar
geblieben ist, ob es sich dabei um der Angeklagten gehörende
oder zustehende Tatmittel handelte, und das Landgericht kein
Ermessen ausgeübt hat. Dieser Rechtsfehler hat sich auch auf
den Strafausspruch ausgewirkt. Über die Einziehung und die
Strafzumessung wird deshalb eine andere Strafkammer des
Landgerichts neu zu entscheiden haben.
Vorinstanz: LG Lüneburg – 21 KLs/5104 Js 40311/21 (13/22) –
Urteil vom 22. November 2022 Maßgebliche Strafvorschriften: §
85 Verstoß gegen ein Vereinigungsverbot (1) Wer als
Rädelsführer oder Hintermann im räumlichen Geltungsbereich
dieses Gesetzes den organisatorischen Zusammenhalt 1. einer
Partei oder Vereinigung, von der im Verfahren nach § 33 Abs.
3 des Parteiengesetzes unanfechtbar festgestellt ist, dass
sie Ersatzorganisation einer verbotenen Partei ist, oder 2.
einer Vereinigung, die unanfechtbar verboten ist, weil sie
sich gegen die verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den
Gedanken der Völkerverständigung richtet, oder von der
unanfechtbar festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation
einer solchen verbotenen Vereinigung ist, aufrechterhält,
wird mit Freiheitsstrafe bis zu fünf Jahren oder mit
Geldstrafe bestraft.
Der Versuch ist strafbar.
(2) Wer sich in einer Partei oder Vereinigung der in Absatz 1
bezeichneten Art als Mitglied betätigt oder wer ihren
organisatorischen Zusammenhalt oder ihre weitere Betätigung
unterstützt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder
mit Geldstrafe bestraft. (3) § 84 Abs. 4 und 5 gilt
entsprechend. § 86 Verbreiten von Propagandamitteln
verfassungswidriger und terroristischer Organisationen (1)
Wer Propagandamittel 1. (…) 2. einer Vereinigung,
die unanfechtbar verboten ist, weil sie sich gegen die
verfassungsmäßige Ordnung oder gegen den Gedanken der
Völkerverständigung richtet, oder von der unanfechtbar
festgestellt ist, dass sie Ersatzorganisation einer solchen
verbotenen Vereinigung ist, 3. (…) 4. (…) im Inland
verbreitet oder der Öffentlichkeit zugänglich macht oder zur
Verbreitung im Inland oder Ausland herstellt, vorrätig hält,
einführt oder ausführt, wird mit Freiheitsstrafe bis zu drei
Jahren oder mit Geldstrafe bestraft. (…) § 86a Verwenden von
Kennzeichen verfassungswidriger und terroristischer
Organisationen (1)
Mit Freiheitsstrafe bis zu
drei Jahren oder mit Geldstrafe wird bestraft, wer 1. im
Inland Kennzeichen einer der in § 86 Abs. 1 Nr. 1, 2 und 4
oder Absatz 2 bezeichneten Parteien oder Vereinigungen
verbreitet oder öffentlich, in einer Versammlung oder in
einem von ihm verbreiteten Inhalt (§ 11 Absatz 3) verwendet
oder 2. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3), der ein derartiges
Kennzeichen darstellt oder enthält, zur Verbreitung oder
Verwendung im Inland oder Ausland in der in Nummer 1
bezeichneten Art und Weise herstellt, vorrätig hält, einführt
oder ausführt.
(2) Kennzeichen im Sinne des
Absatzes 1 sind namentlich Fahnen, Abzeichen, Uniformstücke,
Parolen und Grußformen. Den in Satz 1 genannten Kennzeichen
stehen solche gleich, die ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
(...) § 130 Volksverhetzung (1) Wer in einer Weise, die
geeignet ist, den öffentlichen Frieden zu stören, 1. gegen
eine nationale, rassische, religiöse oder durch ihre
ethnische Herkunft bestimmte Gruppe, gegen Teile der
Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem
Teil der Bevölkerung zum Hass aufstachelt, zu Gewalt- oder
Willkürmaßnahmen auffordert oder 2. die Menschenwürde anderer
dadurch angreift, dass er eine vorbezeichnete Gruppe, Teile
der Bevölkerung oder einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer vorbezeichneten Gruppe oder zu einem
Teil der Bevölkerung beschimpft, böswillig verächtlich macht
oder verleumdet, wird mit Freiheitsstrafe von drei Monaten
bis zu fünf Jahren bestraft.
(2) Mit
Freiheitsstrafe bis zu drei Jahren oder mit Geldstrafe wird
bestraft, wer 1. einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) verbreitet oder
der Öffentlichkeit zugänglich macht oder einer Person unter
achtzehn Jahren einen Inhalt (§ 11 Absatz 3) anbietet,
überlässt oder zugänglich macht, der a) zum Hass gegen eine
in Absatz 1 Nummer 1 bezeichnete Gruppe, gegen Teile der
Bevölkerung oder gegen einen Einzelnen wegen dessen
Zugehörigkeit zu einer in Absatz 1 Nummer 1 bezeichneten
Gruppe oder zu einem Teil der Bevölkerung aufstachelt,
b) zu Gewalt- oder Willkürmaßnahmen gegen in Buchstabe a
genannte Personen oder Personenmehrheiten auffordert oder c)
die Menschenwürde von in Buchstabe a genannten Personen oder
Personenmehrheiten dadurch angreift, dass diese beschimpft,
böswillig verächtlich gemacht oder verleumdet werden oder 2.
einen in Nummer 1 Buchstabe a bis c bezeichneten Inhalt (§ 11
Absatz 3) herstellt, bezieht, liefert, vorrätig hält,
anbietet, bewirbt oder es unternimmt, diesen ein- oder
auszuführen, um ihn im Sinne der Nummer 1 zu verwenden oder
einer anderen Person eine solche Verwendung zu ermöglichen.
(…)
§ 132a Missbrauch von Titeln,
Berufsbezeichnungen und Abzeichen (1) Wer unbefugt 1.
inländische oder ausländische Amts- oder Dienstbezeichnungen,
akademische Grade, Titel oder öffentliche Würden führt, 2.
die Berufsbezeichnung Arzt, Zahnarzt, Psychologischer
Psychotherapeut, Kinder- und Jugendlichenpsychotherapeut,
Psychotherapeut, Tierarzt, Apotheker, Rechtsanwalt,
Patentanwalt, Wirtschaftsprüfer, vereidigter Buchprüfer,
Steuerberater oder Steuerbevollmächtigter führt, (…) wird mit
Freiheitsstrafe bis zu einem Jahr oder mit Geldstrafe
bestraft. (2) Den in Absatz 1 genannten Bezeichnungen,
akademischen Graden, Titeln, Würden, Uniformen,
Amtskleidungen oder Amtsabzeichen stehen solche gleich, die
ihnen zum Verwechseln ähnlich sind.
Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung bei Vorbeifahrt an
einem Müllabfuhrfahrzeug Urteil vom 12. Dezember
2023 - VI ZR 77/23
Bundesgerichtshof Karlsruhe, 23.
Januar 2024 - Der unter anderem für Rechtsstreitigkeiten über
Ansprüche aus Unfällen zuständige VI. Zivilsenat hat über
einen Fall entschieden, in dem eine Pkw-Fahrerin an einem
Müllabfuhrfahrzeug vorbeifuhr und mit einem gerade entleerten
Müllcontainer kollidierte. Der Senat hat in diesem Fall einen
Verstoß der Fahrerin gegen die Straßenverkehrsordnung bejaht.
Sachverhalt Die Klägerin, ein Pflegedienst,
macht gegen einen für die Abfallwirtschaft zuständigen
kommunalen Zweckverband Schadensersatzansprüche nach einem
Verkehrsunfall geltend, bei dem eines ihrer
Pflegedienstfahrzeuge beschädigt wurde. Eine Mitarbeiterin
der Klägerin fuhr mit diesem Fahrzeug aus der Gegenrichtung
kommend an einem Müllabfuhrfahrzeug des beklagten
Zweckverbandes vorbei, das mit laufendem Motor, laufender
Schüttung und eingeschalteten gelben Rundumleuchten sowie
Warnblinkanlage in der Straße stand. Dabei kam es zu einer
Kollision des klägerischen Fahrzeugs mit einem Müllcontainer,
den ein bei dem Beklagten angestellter Müllwerker hinter dem
Müllabfuhrfahrzeug quer über die Straße schob.
Mit der Klage hat die Klägerin Erstattung der
Fahrzeugreparaturkosten verlangt. Bisheriger Prozessverlauf
Das Landgericht hat der Klage gegen den Beklagten unter
Zugrundelegung einer Haftungsquote von 50 zu 50 teilweise
stattgegeben. Auf die Berufung der Klägerin hat das
Oberlandesgericht das Urteil des Landgerichts teilweise
abgeändert und den Beklagten unter Zugrundelegung einer
Haftungsquote von 75 (Beklagter) zu 25 (Klägerin) zu weiterem
Schadensersatz verurteilt. Es ist dabei davon ausgegangen,
dass der Fahrerin des Pkw kein Verstoß gegen die
Straßenverkehrsordnung anzulasten sei.
Entscheidung des Senats: Die Revision des Beklagten hatte
Erfolg. Das Urteil des Berufungsgerichts wurde aufgehoben und
die Sache an das Berufungsgericht zur neuen Verhandlung und
Entscheidung zurückverwiesen. Der Klägerin steht gegen den
Beklagten als Halter des Müllabfuhrfahrzeugs ein
Schadensersatzanspruch aus § 7 StVG zu, da das Fahrzeug der
Klägerin "bei dem Betrieb" des Müllabfuhrfahrzeugs beschädigt
worden ist. Die Gefahr, die von einer gerade entleerten
Mülltonne auf der Straße für andere Verkehrsteilnehmer
ausgeht, ist dem Betrieb des Müllabfuhrfahrzeugs zuzurechnen.
Bei der Entscheidung über die Haftungsverteilung
hat das Berufungsgericht zu Recht dem Müllwerker einen
schuldhaften Verstoß gegen § 1 Abs. 2 StVO vorgeworfen, weil
er hinter dem Müllabfuhrfahrzeug einen Müllcontainer quer
über die Straße schob, ohne auf den Verkehr und das Fahrzeug
der Klägerin zu achten, welches für ihn - hätte er den
Müllcontainer nicht vor sich hergeschoben - erkennbar gewesen
wäre.
Allerdings ist entgegen der Ansicht des
Berufungsgerichts auch der Mitarbeiterin der Klägerin als
Fahrerin des Pkw ein Verstoß gegen die Straßenverkehrsordnung
vorzuwerfen: Das Hauptaugenmerk der mit dem Holen, Entleeren
und Zurückbringen von Müllcontainern befassten Müllwerker ist
auf ihre Arbeit gerichtet, die sie überwiegend auf der Straße
und effizient, das heißt in möglichst kurzer Zeit und auf
möglichst kurzen Wegen, zu erledigen haben. Wer an einem
Müllabfuhrfahrzeug vorbeifährt, das erkennbar im Einsatz ist,
darf daher nicht uneingeschränkt auf ein verkehrsgerechtes
Verhalten der Müllwerker vertrauen.
Er muss damit
rechnen, dass Müllwerker plötzlich vor oder hinter dem
Müllabfuhrfahrzeug hervortreten und unachtsam einige Schritte
weiter in den Verkehrsraum tun, bevor sie sich über den
Verkehr vergewissern. Auf diese typischerweise mit dem
Einsatz von Müllabfuhrfahrzeugen verbundenen Gefahren hat der
vorbeifahrende Verkehrsteilnehmer sein Fahrverhalten
einzurichten. Lässt sich ein ausreichender Seitenabstand zum
Müllabfuhrfahrzeug, durch den die Gefährdung eines plötzlich
vor oder hinter dem Müllabfuhrfahrzeug hervortretenden
Müllwerkers vermieden werden kann, nicht einhalten, so ist
die Geschwindigkeit gemäß § 1, § 3 Abs. 1 Satz 2 StVO so weit
zu drosseln, dass der Verkehrsteilnehmer sein Fahrzeug
notfalls sofort zum Stehen bringen kann.
Den
dargelegten Anforderungen genügte die vom Berufungsgericht
festgestellte Fahrweise der Fahrerin des klägerischen
Fahrzeugs nicht. Bei einem Seitenabstand von maximal 50 cm
zum Müllabfuhrfahrzeug war die Ausgangsgeschwindigkeit von 13
km/h zu hoch, als dass die Fahrerin das Fahrzeug notfalls
sofort zum Stehen hätte bringen können.
Vorinstanzen: Landgericht Hannover - Urteil vom 01.08.2022 -
12 O 103/21 Oberlandesgericht Celle - Urteil vom 15.02.2023 -
14 U 111/22 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 1 der
Straßenverkehrs-Ordnung (StVO): Grundregeln (1) Die Teilnahme
am Straßenverkehr erfordert ständige Vorsicht und
gegenseitige Rücksicht.
(2) Wer am Verkehr
teilnimmt hat sich so zu verhalten, dass kein Anderer
geschädigt, gefährdet oder mehr, als nach den Umständen
unvermeidbar, behindert oder belästigt wird. § 3 StVO
Geschwindigkeit (1) Wer ein Fahrzeug führt, darf nur so
schnell fahren, dass das Fahrzeug ständig beherrscht wird.
Die Geschwindigkeit ist insbesondere den Straßen-, Verkehrs-,
Sicht- und Wetterverhältnissen sowie den persönlichen
Fähigkeiten und den Eigenschaften von Fahrzeug und Ladung
anzupassen….
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