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  Archiv 2023  

Dezember 2023

Die Bundestagswahl muss in 455 von 2.256 Wahlbezirken des Landes Berlin wiederholt werden

Karlsruhe, 19. Dezember 2023 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts die Wahl zum 20. Deutschen Bundestag über den Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022 hinausgehend in weiteren 31 Wahlbezirken des Landes Berlin sowie den zugehörigen Briefwahlbezirken für ungültig erklärt und eine Wiederholungswahl angeordnet. Zudem hat er den genannten Beschluss des Bundestages insoweit aufgehoben, als die Bundestagswahl in sieben Wahlbezirken und den damit verbundenen Briefwahlbezirken für ungültig erklärt wurde.


Die CDU/CSU-Bundestagsfraktion wendet sich mit ihrer Wahlprüfungsbeschwerde gegen den Beschluss des Bundestages vom 10. November 2022, mit dem dieser die Bundestagswahl 2021 in 431 Wahlbezirken in Berlin für ungültig erklärt und insoweit eine Wiederholungswahl angeordnet hat. Der Beschluss des Deutschen Bundestages vom 10. November 2022 ist im Ergebnis überwiegend rechtmäßig. D


er Bundestag hat das Wahlgeschehen jedoch unzureichend aufgeklärt, da er auf die gebotene Beiziehung und Auswertung der Niederschriften der einzelnen Wahlbezirke verzichtet hat. Dies hat das Bundesverfassungsgericht im Rahmen seiner Amtsaufklärungspflicht nachgeholt. Daraus ergibt sich, dass einerseits die Bundestagswahl in weiteren 25 Wahlbezirken des Landes Berlin einschließlich der zugehörigen Briefwahlbezirke für ungültig zu erklären und andererseits die Ungültigerklärung der Wahl in sieben Wahlbezirken und deren Briefwahlbezirken im Beschluss des Deutschen Bundestages aufzuheben ist.

Daneben führen erst nach der mündlichen Verhandlung bekanntgewordene Besonderheiten der Auszählung von Briefwahlstimmen zur Ungültigerklärung der Bundestagswahl in weiteren sechs Briefwahlbezirken und den sechs mit diesen verbundenen Urnenwahlbezirken. Die Wiederholungswahl ist als Zweistimmenwahl (d. h. mit Erst- und Zweitstimme) durchzuführen.


Unzulässige Wahlprüfungsbeschwerde der AfD-Bundestagsfraktion gegen die Teilwiederholung der Bundestagswahl in Berlin
Karlsruhe, 19. Dezember 2023 - Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts eine Wahlprüfungsbeschwerde der AfD-Fraktion im Deutschen Bundestag als unzulässig verworfen.


Erfolgloser Eilantrag gegen die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens zum Bürgerenergiegesetz NRW

Münster, 14. Dezember 2023 - Mit Beschluss vom heutigen Tag hat der Verfassungsgerichtshof in Münster einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung abgelehnt, der darauf zielte, dem Landtag Nordrhein-Westfalen aufzugeben, die dritte Lesung zum Entwurf des Gesetzes über die Beteiligung von Bürgerinnen und Bürgern sowie Gemeinden an der Windenergienutzung in Nordrhein-Westfalen (Bürgerenergiegesetz NRW) nicht innerhalb der laufenden Sitzungswoche durchzuführen. Die Entscheidung ist mit 4 zu 3 Stimmen ergangen.


Der Antragsteller, ein Mitglied der FDP-Fraktion im Landtag Nordrhein-Westfalen, sieht sich durch das Gesetzgebungsverfahren und insbesondere die beabsichtigte dritte Lesung des Gesetzentwurfs am 15. Dezember 2023 in seinen Rechten als Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen verletzt. Er macht im Kern geltend, die Einbringung eines zwölf Seiten umfassenden Änderungsantrags zum ursprünglichen Gesetzentwurf durch die Fraktionen von CDU und BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN erst am 12. Dezember 2023 lasse eine verantwortliche Mitwirkung an der Beratung und Beschlussfassung des Parlaments in der Kürze der Zeit nicht zu.

Den Eilantrag hatte der Antragsteller mit einem Antrag zur Auslegung der Landesverfassung über den Umfang seiner Rechte und Pflichten als Abgeordneter (VerfGH 116/23) verbunden. Eine Entscheidung über diesen Antrag steht noch aus. Der Verfassungsgerichtshof hat die Entscheidung über die einstweilige Anordnung ohne Begründung bekanntgegeben, die den Beteiligten gesondert übermittelt wird. VerfGH 117/23

 

 

November 2023

Bemerkungen im Abiturzeugnis über die Nichtbewertung einzelner Leistungen sind grundsätzlich geboten

Karlsruhe, 22. November 2023 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die in den bayerischen Abiturzeugnissen der an Legasthenie leidenden Beschwerdeführer im Jahr 2010 angebrachten Bemerkungen über die Nichtbewertung ihrer Rechtschreibleistungen die Beschwerdeführer in ihrem Grundrecht aus Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG verletzen, weil sie auf einer damals geübten diskriminierenden Verwaltungspraxis beruhen: Legasthenie ist eine Behinderung im Sinne des Art. 3 Abs. 3 Satz 2 GG.


Die angegriffenen Zeugnisbemerkungen benachteiligen die Beschwerdeführer. Eine gleichmäßige Anbringung von Zeugnisbemerkungen über die von allgemeinen Prüfungsmaßstäben abweichende Nichtbewertung einzelner Leistungen wegen behinderungsbedingter Einschränkungen dient der Herstellung von Transparenz über die tatsächlich erbrachten schulischen Leistungen. Sie ist im Interesse eines bezogen auf die Leistungsfähigkeit chancengleichen Zugangs aller Abiturienten zu Ausbildung und Beruf grundsätzlich gerechtfertigt.


Unter bestimmten Voraussetzungen, insbesondere bei Ausgestaltung des Abiturs durch den Gesetzgeber als breiter Leistungsnachweis und allgemeine Hochschulreife, können solche Zeugnisbemerkungen sogar geboten sein. Die verfassungsrechtliche Beanstandung der hier angegriffenen Zeugnisbemerkungen ist daher nur der im Jahr 2010 in Bayern geübten diskriminierenden Verwaltungspraxis geschuldet, nach der Zeugnisbemerkungen ausschließlich bei legasthenen Schülern angebracht wurden, nicht jedoch bei Schülern mit anderen Behinderungen oder in Konstellationen, in denen Lehrkräfte aufgrund eines ihnen eingeräumten Ermessens von einer Bewertung von Rechtschreibleistungen in bestimmten Fällen absehen konnten.

Unwirksamkeit einer Klausel zu Abschluss- und Vermittlungskosten in einem Riester-Altersvorsorgevertrag
Karlsruhe, 21. November 2023 - XI ZR 290/22 - Der u.a. für das Bank- und Börsenrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass die in Altersvorsorgeverträgen mit der Bezeichnung "S VorsorgePlus Altersvorsorgevertrag nach dem Altersvermögens-gesetz (Sparkonto mit Zinsansammlung)" einer Sparkasse enthaltene Klausel zu Abschluss- und Vermittlungskosten unwirksam ist.


Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf: Der Kläger, ein eingetragener Verein, nimmt satzungsmäßig Verbraucherinteressen wahr und ist als qualifizierte Einrichtung gemäß § 4 UKlaG eingetragen. Die beklagte Sparkasse verwendet in ihren Sonderbedingungen für die genannten Altersvorsorgeverträge u.a. die folgende Bestimmung: "Im Falle der Vereinbarung einer Leibrente werden dem Sparer ggfs. Abschluss- und/oder Vermittlungskosten belastet."


Der Kläger hält die vorbezeichnete Klausel für unwirksam, da sie nicht klar und verständlich sei und die Sparer damit entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteilige. Er nimmt die Beklagte darauf in Anspruch, es zu unterlassen, sich auf diese oder eine inhaltsgleiche Klausel gegenüber Verbrauchern in Altersvorsorgeverträgen nach dem Altersvermögensgesetz zu berufen. Das Landgericht hat der Klage stattgegeben.


Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Mit ihrer vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Beklagte ihren Klageabweisungsantrag weiter. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass es sich bei der angefochtenen Klausel um eine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB handelt, die nicht klar und verständlich ist und dadurch die Vertragspartner der Beklagten unangemessen benachteiligt.

Zur Begründung hat der Senat im Wesentlichen ausgeführt: Die Klausel stellt eine Allgemeine Geschäftsbedingung im Sinne von § 305 Abs. 1 Satz 1 BGB dar und nicht lediglich einen unverbindlichen Hinweis. Denn der durchschnittliche Sparer versteht die Klausel dahin, dass sie der Beklagten das Recht einräumen soll, von ihm im Fall der Vereinbarung einer Leibrente Abschluss- und/oder Vermittlungskosten zu verlangen.


Die fehlende Benennung von Voraussetzungen, von denen die Erhebung von Abschluss- und/oder Vermittlungskosten durch die Beklagte abhängen soll, sowie die fehlende Bestimmung der Höhe der Kosten stellen den Regelungsgehalt der Klausel nicht in Frage. Die Bezeichnung des Klauselwerks, in dem die Klausel enthalten ist, als Sonderbedingungen spricht ebenfalls dafür, dass die Klausel den Vertragsinhalt regelt. Die Klausel ist nicht klar und verständlich im Sinne des § 307 Abs. 1 Satz 2 BGB und benachteiligt dadurch die Vertragspartner der Beklagten unangemessen.


Diese können die mit der Klausel für sie verbundenen wirtschaftlichen Folgen nicht absehen. Die Klausel lässt nicht erkennen, ob die Beklagte im Fall der Vereinbarung einer Leibrente tatsächlich Abschluss- und/oder Vermittlungskosten vom Verbraucher beansprucht. Voraussetzungen, die maßgebend dafür sein sollen, dass Abschluss- und/oder Vermittlungskosten dem Grunde nach anfallen, werden dem Verbraucher weder in der Klausel noch an anderer Stelle mitgeteilt. Außerdem erfährt der Verbraucher nicht, in welcher Höhe er gegebenenfalls mit Abschluss- und/oder Vermittlungskosten belastet wird.

Die Klausel benennt für die Abschluss- und Vermittlungskosten weder einen absoluten Betrag noch einen Prozentsatz, der sich auf ein bestimmtes Kapital bezieht. Sie lässt den Verbraucher auch im Unklaren darüber, ob die Kosten einmalig, monatlich oder jährlich anfallen sollen. Danach kann der Verbraucher die Größenordnung der Abschluss- und Vermittlungskosten nicht absehen, mit denen er bei Vereinbarung einer Leibrente von der Beklagten belastet werden soll. Der Beklagten wäre die gebotene Eingrenzung der Kosten der Höhe nach möglich gewesen.

Vorinstanzen: Landgericht München I – Urteil vom 15. März 2021 – 27 O 230/20 Oberlandesgericht München – Urteil vom 20. Oktober 2022 – 29 U 2022/21


Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 305 BGB (1) Allgemeine Geschäftsbedingungen sind alle für eine Vielzahl von Verträgen vorformulierte Vertragsbedingungen, die eine Vertragspartei (Verwender) der anderen Vertragspartei bei Abschluss eines Vertrags stellt. … § 307 BGB (1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.

 

Verfassungsbeschwerde gegen Gemeindefinanzierungsgesetz 2023 eingegangen
Münster. 20. November 2023 - Die kreisfreien Städte Bonn, Bottrop, Dortmund, Düsseldorf, Köln, Münster, Solingen und Wuppertal haben am 16. November 2023 Verfassungsbeschwerde gegen § 9 Abs. 2 Nrn. 1 und 3 Gemeindefinanzierungsgesetz 2023 (GFG 2023) erhoben. Sie behaupten, die angegriffenen Regelungen verletzten sie in ihrem Recht auf gemeindliche Selbstverwaltung, soweit darin für kreisfreie Städte höhere fiktive Hebesätze festgesetzt sind als für kreisangehörige Städte und Gemeinden.

Beim Verfassungsgerichtshof ist bereits eine Verfassungsbeschwerde derselben kreisfreien Städte gegen das Gemeindefinanzierungsgesetz 2022 anhängig (VerfGH 115/22), über die noch nicht entschieden ist. Aktenzeichen: VerfGH 101/23

 

Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021 ist nichtig

Karlsruhe, 15. November 2023 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit Art. 109 Abs. 3, Art. 110 Abs. 2 und Art. 115 Abs. 2 Grundgesetz (GG) unvereinbar und nichtig ist. 2 BvF 1/22


Die antragstellenden Mitglieder der CDU/CSU-Fraktion wenden sich gegen die rückwirkende Änderung des Haushaltsgesetzes und des Bundeshaushaltsplans 2021 durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021. Mit diesem sollte eine im Bundeshaushalt 2021 als Reaktion auf die Corona-Pandemie vorgesehene, jedoch im Haushaltsjahr 2021 nicht unmittelbar benötigte Kreditermächtigung in Höhe von 60 Milliarden Euro durch eine Zuführung an den „Energie- und Klimafonds“ (EKF), ein unselbständiges Sondervermögen des Bundes, für künftige Haushaltsjahre nutzbar gemacht werden. Die Zuführung erfolgte im Februar 2022 – also rückwirkend – für das abgeschlossene Haushaltsjahr 2021. Der EKF wurde zwischenzeitlich in „Klima- und Transformationsfonds“ (KTF) umbenannt.

Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an notlagenbedingte Kreditaufnahmen. Der Senat stützt seine Entscheidung auf drei, jeweils für sich tragfähige Gründe: Erstens hat der Gesetzgeber den notwendigen Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den ergriffenen Krisenbewältigungsmaßnahmen nicht ausreichend dargelegt. 

Zweitens
 widerspricht die zeitliche Entkoppelung der Feststellung einer Notlage gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom tatsächlichen Einsatz der Kreditermächtigungen den Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit. Die faktisch unbegrenzte Weiternutzung von notlagenbedingten Kreditermächtigungen in nachfolgenden Haushaltsjahren ohne Anrechnung auf die „Schuldenbremse“ bei gleichzeitiger Anrechnung als „Schulden“ im Haushaltsjahr 2021 ist demzufolge unzulässig. Drittens verstößt die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 gegen den Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG.

Die Entscheidung hat zur Folge, dass sich der Umfang des KTF um 60 Milliarden Euro reduziert. Soweit hierdurch bereits eingegangene Verpflichtungen nicht mehr bedient werden können, muss der Haushaltsgesetzgeber dies anderweitig kompensieren.

Sachverhalt:

Der Bundeshaushalt 2021 sah ursprünglich Kreditermächtigungen in Höhe von etwa 180 Milliarden Euro vor. Im April 2021 wurden mit dem (ersten) Nachtragshaushaltsgesetz 2021 die Kreditermächtigungen für das Haushaltsjahr 2021 um weitere 60 Milliarden Euro auf etwa 240 Milliarden Euro aufgestockt. Ermöglicht wurde dies durch einen Beschluss des Deutschen Bundestages vom 23. April 2021, mit dem das Bestehen einer außergewöhnlichen Notsituation gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 und 7 GG – einer Ausnahme von der verfassungsrechtlichen Verschuldungsgrenze – festgestellt wurde.

Im Verlauf des Haushaltsjahres 2021 zeigte sich, dass diese Aufstockungen nicht benötigt wurden. Vor diesem Hintergrund kam im politischen Raum die Vorstellung auf, die mit dem Nachtragshaushaltsgesetz 2021 eingeräumten Kreditermächtigungen in der vollen Höhe von 60 Milliarden Euro durch eine Zuführung an den EKF für künftige Haushaltsjahre nutzbar zu machen.

Aufgrund von Art. 1 des Gesetzes über die Feststellung eines Zweiten Nachtrags zum Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2021 (Zweites Nachtragshaushaltsgesetz 2021) wurden das Gesamtvolumen des Bundeshaushalts 2021 von 547,7 Milliarden Euro auf 572,7 Milliarden Euro und das Volumen des EKF von 42,6 Milliarden Euro auf 102,6 Milliarden Euro erhöht. Insoweit wurde der Bundeshaushaltsplan 2021 entsprechend angepasst. Nach Art. 2 des Gesetzes trat die Änderung mit Wirkung vom 1. Januar 2021 und damit rückwirkend in Kraft. Das Gesetz wurde am 25. Februar 2022 im Bundesgesetzblatt verkündet.

Mit ihrem Normenkontrollantrag begehren die Antragstellerinnen und Antragsteller die Feststellung, dass die im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vorgesehene rückwirkende Zuführung der Kreditermächtigungen an den EKF mit dem Grundgesetz unvereinbar und nichtig ist.

Daneben haben sie beantragt, im Wege der einstweiligen Anordnung zu regeln, dass besagte Kreditermächtigungen bis zur Hauptsacheentscheidung nur in Anspruch genommen werden dürfen, soweit der Deutsche Bundestag entsprechende Ausgaben im Bundeshaushaltsplan für das Haushaltsjahr 2022 beschließt. Der Senat hat diesen Antrag mit Beschluss vom 22. November 2022 abgelehnt (8. Dezember 2022).

Wesentliche Erwägungen des Senats:

Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 entspricht nicht den verfassungsrechtlichen Anforderungen an die notlagenbedingte Kreditaufnahme aus Art. 109 Abs. 3 Satz 1 und 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 1 und 6 GG. Daneben verstößt es im Hinblick auf den Zeitpunkt seines Erlasses gegen das Gebot der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG. Auf einen möglichen Verstoß gegen die Grundsätze der Haushaltsklarheit und -wahrheit gemäß Art. 110 Abs. 1 Satz 1 GG kommt es demnach nicht mehr an.

I. 1. a) Art. 115 Abs. 2 Satz 1 GG konkretisiert das – an Bund und Länder gerichtete – grundsätzliche Verbot der strukturellen Neuverschuldung aus Art. 109 Abs. 3 Satz 1 GG („Schuldenbremse“). Danach sind im Rahmen der Haushaltswirtschaft des Bundes Einnahmen und Ausgaben grundsätzlich ohne Einnahmen aus Krediten auszugleichen. Nach Art. 109 Abs. 3 Satz 4, Art. 115 Abs. 2 Satz 2 GG ist diesem Gebot Genüge getan, wenn die Einnahmen aus Krediten 0,35 vom Hundert im Verhältnis zum nominalen Bruttoinlandsprodukt nicht überschreiten. Hinzu tritt nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG eine sogenannte „Konjunkturkomponente“, wonach bei einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung die Auswirkungen auf den Haushalt im Auf- und Abschwung symmetrisch berücksichtigt werden können.

b) Art. 109 Abs. 3 Satz 2 in Verbindung mit Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG gibt dem Bundestag das Recht zu beschließen, dass die sich aus Schuldenbremse und Konjunkturkomponente ergebenden Kreditobergrenzen im Falle von Naturkatastrophen oder außergewöhnlichen Notsituationen, die sich der Kontrolle des Staates entziehen und die staatliche Finanzlage erheblich beeinträchtigen, überschritten werden dürfen.


Neben den geschriebenen Tatbestandsvoraussetzungen von Art. 115 Abs. 2 Satz 6 bis 8 GG ist ein sachlicher Veranlassungszusammenhang zwischen der Naturkatastrophe oder außergewöhnlichen Notsituation und der Überschreitung der Kreditobergrenzen erforderlich. Bei dessen Beurteilung kommt dem Gesetzgeber ein Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum zu. Eine verfassungsgerichtliche Überprüfung der Verhältnismäßigkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme scheidet indes aus. Allerdings ergeben sich Darlegungslasten des Gesetzgebers, um eine verfassungsrechtliche Überprüfung der Nachvollziehbarkeit und Vertretbarkeit der gesetzgeberischen Entscheidungen über die Kreditaufnahme zu ermöglichen.

c) Dem systematischen Gefüge der verfassungsrechtlichen Vorgaben zur Kreditaufnahme des Bundes nach den Art. 109 Abs. 3, Art. 115 GG sind darüber hinaus die haushaltsrechtlichen Prinzipien der Jährlichkeit und Jährigkeit – flankiert vom Haushaltsgrundsatz der Fälligkeit – zu entnehmen.

aa) Das Prinzip der Jährlichkeit geht dahin, dass der Haushaltsplan vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen ist. Nach dem Prinzip der Jährigkeit dürfen Ermächtigungen nur bis zum Ende des Haushaltsjahres in Anspruch genommen werden. Anschließend verfallen sie grundsätzlich ersatzlos. Der Haushaltsgrundsatz der Fälligkeit besagt, dass im Haushaltsplan nur diejenigen Einnahmen und Ausgaben veranschlagt werden dürfen, die im Haushaltsjahr voraussichtlich kassenwirksam werden.

bb) Die genannten Haushaltsprinzipien gelten auch für die Ausnahmeregelung zur Schuldenbremse bei Naturkatastrophen und außergewöhnlichen Notsituationen nach Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG. Sie können nicht durch den Einsatz von Sondervermögen umgangen werden. Ihre Einhaltung unterliegt einer strikten verfassungsgerichtlichen Kontrolle.

2. a) Das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 muss sich an Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG messen lassen. Deren geschriebene Tatbestandsvoraussetzungen sind erfüllt. Der Gesetzgeber hat jedoch den Veranlassungszusammenhang zwischen der festgestellten Notsituation und den durch die notlagenbedingte Kreditaufnahme finanzierten Maßnahmen zur Krisenbewältigung nicht ausreichend dargelegt.

aa) Die Bundesregierung verweist hierzu insbesondere auf ihre Absicht, die Förderung der pandemiebedingt geschwächten Wirtschaft mit einem weiteren politischen Anliegen – der Förderung von Klimaschutz, Transformation und Digitalisierung – zu verbinden: Eine verlässliche staatliche Finanzierung und eine Förderung privatwirtschaftlicher Ausgaben für bedeutende Zukunfts- und Transformationsaufgaben in den Bereichen Klimaschutz und Digitalisierung seien unter den besonderen Bedingungen der Pandemiebewältigung wesentliche Voraussetzungen, um die Folgen der Krise schnell zu überwinden, die Wettbewerbsfähigkeit der Volkswirtschaft zu sichern und damit das wirtschaftliche Wachstum anzuregen und nachhaltig zu stärken.

bb) Diese Begründung erweist sich als nicht ausreichend tragfähig. Zum Zeitpunkt der Gesetzesberatungen dauerte die Corona-Pandemie bereits fast zwei Jahre an. Je länger das auslösende Krisenereignis in der Vergangenheit liegt, je mehr Zeit dem Gesetzgeber deshalb zur Entscheidungsfindung gegeben ist und je mittelbarer die Folgen der ursprünglichen Krisensituation sind, desto stärker wird der Einschätzungs- und Beurteilungsspielraum des Haushaltsgesetzgebers eingeengt. Hiermit geht eine Steigerung der Anforderungen an die Darlegungslast des Gesetzgebers einher. Dies gilt umso mehr, wenn der Gesetzgeber – wie hier – wiederholt innerhalb eines Haushaltsjahres oder innerhalb aufeinander folgender Haushaltsjahre von der Möglichkeit der notlagenbedingten Kreditaufnahme Gebrauch macht.

cc) Je länger die diagnostizierte Krise anhält und je umfangreicher der Gesetzgeber notlagenbedingte Kredite in Anspruch genommen hat, desto detaillierter hat er die Gründe für das Fortbestehen der Krise und die aus seiner Sicht fortdauernde Geeignetheit der von ihm geplanten Maßnahmen zur Krisenbewältigung aufzuführen. Er muss insbesondere darlegen, ob die von ihm in der Vergangenheit zur Überwindung der Notlage ergriffenen Maßnahmen tragfähig waren und ob er hieraus Schlüsse für die Geeignetheit künftiger Maßnahmen gezogen hat.

Eine solche Evaluation und Einordnung der bisherigen Krisenbewältigungsmaßnahmen findet sich in der Gesetzesbegründung allenfalls im Ansatz. Hierzu heißt es insbesondere, die hiesigen Mittel ergänzten die bereits im Jahr 2020 zur Pandemiebewältigung dem EKF zugeführten Mittel und dienten damit weiterhin der Pandemiebewältigung. Die Entwicklung zeige, dass die bislang zur Überwindung der außergewöhnlichen Notsituation ergriffenen staatlichen Maßnahmen wirkten. Sie seien geeignet, erforderlich und angemessen, um die akuten wirtschaftlichen Auswirkungen der Pandemie abzufedern.

Welche konkreten Maßnahmen der EKF schon aufgrund der ersten Zuweisung ergriffen und welche (messbaren) Folgen diese Maßnahmen hatten, bleibt jedoch unerörtert. Es ist deshalb schon unklar, ob durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 letztlich die gleichen Maßnahmen finanziert werden sollen wie mit der ursprünglichen notlagenbedingten Kreditermächtigung im Jahr 2020.

Eine Begründung, weshalb die noch im (ersten) Nachtragshaushaltsgesetz 2021 für erforderlich erachteten Kreditermächtigungen in Höhe von 60 Milliarden Euro zum Ende des Haushaltsjahres 2021 entgegen der ursprünglichen Planung nicht zur Krisenbewältigung verwendet worden sind, gibt der Gesetzgeber nicht. Eine solche Begründung war hier umso mehr angezeigt, als zwischen der Feststellung einer Notlage für das Haushaltsjahr 2021 und der Beschlussfassung über das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 fast ein Jahr vergangen war.

Anlass zu einer vertieften argumentativen Auseinandersetzung bestand auch mit Blick auf den Umstand, dass der EKF bereits sehr viel früher errichtet und die Zielsetzung der durch ihn finanzierten Programme bereits zum damaligen Zeitpunkt festgelegt worden war, ohne dass die bereits laufenden Programme den Eintritt der Krisenfolgen verhindert oder ihre Folgen begrenzt hätten. Daher ist die Geeignetheit der vom Sondervermögen finanzierten Programme zur Krisenbewältigung nicht indiziert.

Schließlich lässt die Gesetzesbegründung die notwendige Abgrenzung einer notlagenbedingten Kreditaufnahme aus Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG vom Anwendungsbereich der erweiterten Kreditaufnahmemöglichkeiten aus Art. 115 Abs. 2 Satz 3 GG wegen einer von der Normallage abweichenden konjunkturellen Entwicklung nicht deutlich werden.

b) Die Zuführung an den KTF durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 widerspricht den Verfassungsgeboten der Jährlichkeit und Jährigkeit aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG.

aa) Die im Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 vorgesehene faktische Vorhaltung von Kreditermächtigungen in periodenübergreifenden Rücklagen verstößt gegen die Maßgaben aus Art. 109 Abs. 3, Art. 115 Abs. 2 GG als jahresbezogene Anforderungen. Der vom Deutschen Bundestag gemäß Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG zu fassende Beschluss im Hinblick auf die Feststellung einer Notlage bezieht sich auf ein konkretes Haushaltsjahr und ist deshalb für jedes Haushaltsjahr gesondert zu treffen. Eine Entkoppelung der notlagenbedingten Kreditermächtigungen von der tatsächlichen Verwendung der Kreditmittel ist mit den verfassungsrechtlichen Anforderungen in Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG nicht vereinbar. Danach müssen sich Kreditermächtigungen, die in einem bestimmten Haushaltsjahr ausgebracht werden, auf die Deckung von Ausgaben beschränken, die für Maßnahmen zur Notlagenbekämpfung in eben diesem Haushaltsjahr anfallen.

bb) Mit dem Zweiten Nachtragshaushaltsgesetz 2021 werden dem KTF als unselbständigem Sondervermögen des Bundes kreditfinanzierte Mittel in Höhe von 60 Milliarden Euro zugeführt, die sich auf die Berechnung der zulässigen Kreditaufnahme für das Jahr 2021 auswirken, während die vom Gesetzgeber zur Krisenbewältigung ins Auge gefassten Maßnahmen, deren Finanzierung die Kreditermächtigungen dienen sollen, für kommende Haushaltsjahre geplant sind. Tatsächlich wirksame Verschuldung entsteht für den Bund nach dieser Konzeption vor allem in den kommenden Jahren und voraussichtlich über die dann für das jeweilige Haushaltsjahr geltende verfassungsrechtliche Verschuldungsgrenze hinaus. Dabei werden die jetzt geschaffenen Kreditermächtigungen ohne Anrechnung auf die Verschuldungsgrenze des dann aktuellen Haushaltsjahres nutzbar gemacht, weil die Anrechnung bereits mit der Ermächtigung im Ausnahmejahr 2021, nicht aber mit der späteren Kreditaufnahme selbst erfolgen soll. Dies ist mit dem Grundsatz der Jährigkeit in Verbindung mit dem Grundsatz der Fälligkeit nicht zu vereinbaren.

cc) Eine Rechtfertigung des Verstoßes gegen Art. 109 Abs. 3 Satz 2, Art. 115 Abs. 2 Satz 6 GG ergibt sich weder aus den Besonderheiten der Corona-Pandemie als solcher noch daraus, dass die Bundesregierung gegenwärtig notwendige und in der Zukunft zu Auszahlungen führende Verpflichtungen gegenüber Dritten nur mit entsprechender finanzieller Unterlegung eingehen könnte. Wenn und soweit auch in den Folgejahren die Tatbestandsvoraussetzungen einer notlagenbedingten Kreditaufnahme (erneut) erfüllt sein sollten, wäre eine solche Kreditaufnahme in der zum jeweiligen Zeitpunkt tatsächlich gebotenen Höhe zulässig. Es besteht daher kein sachlicher Grund dafür, auf Kreditermächtigungen aus dem Jahr 2021 zurückzugreifen.

II. Die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 verstößt gegen das Gebot der Vorherigkeit aus Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG.

1. Der Haushaltsplan ist aufgrund des Gebots der Vorherigkeit gemäß Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG grundsätzlich vor Beginn des Rechnungsjahres durch das Haushaltsgesetz festzustellen.

a) Das Gebot der Vorherigkeit dient der wirksamen Ausgestaltung des parlamentarischen Budgetrechts. Dieser Grundsatz zielt auf die Sicherung der Budgethoheit des Parlaments in zeitlicher Hinsicht und will insbesondere die Leitungsfunktion des Haushalts für das gesamte Haushaltsjahr gewährleisten. Alle am Gesetzgebungsverfahren beteiligten Verfassungsorgane sind gehalten, an der Erfüllung des Vorherigkeitsgebots mitzuwirken. Dies gilt auch für die Bundesregierung, der das alleinige Initiativrecht zur Einbringung eines (Nachtrags-)Haushaltsgesetzes zusteht.

b) Das Gebot der Vorherigkeit gilt grundsätzlich auch bei der Aufstellung von Nachtragshaushalten. Im Hinblick auf den Schutzzweck des Vorherigkeitsgebots, das auf die Gewährleistung der Lenkungs- und Kontrollfunktionen des Haushaltsgesetzes und damit auf die Wirksamkeit der Budgethoheit des Parlaments zielt, ist eine entsprechende Anwendung auf die Einbringung eines Nachtragshaushalts geboten. Das Vorherigkeitsgebot wird dann zu einem Verfassungsgebot rechtzeitiger, nicht willkürlich verzögerter Korrektur oder Anpassung ursprünglich oder nachträglich realitätsfremder Haushaltsansätze.

c) Im vorliegenden Fall geht es darum, dass ein Nachtragshaushaltsgesetz für das Jahr 2021 überhaupt erst nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 beschlossen wurde.

aa) Aus § 33 Satz 2 Bundeshaushaltsordnung folgt, dass ein Nachtragsentwurf bis zum Ende des Haushaltsjahres einzubringen ist. In der Literatur besteht jedoch die einhellige Meinung, diese Vorschrift verfassungskonform dahingehend auszulegen, dass ein Nachtragsentwurf bis zum Jahresende parlamentarisch zu beschließen ist, weil er anderenfalls nichtig wäre.

bb) Für diese Auffassung spricht, dass ein Nachtragshaushalt die ursprüngliche Planung den neuen oder geänderten Bedürfnissen anpassen soll und aus diesem Grunde selbst planenden Charakter für den Rest des laufenden Haushaltsjahres haben muss. Dieser Planungscharakter entfällt bei der Verabschiedung eines Nachtragshaushalts erst nach Ablauf des Haushaltsjahres. Der Haushaltsvollzug ist dann abgeschlossen und kann nicht mehr beeinflusst werden. Die parlamentarische Beschlussfassung über einen Nachtragsentwurf nach Abschluss eines Haushaltsjahres widerspricht damit der Funktion eines Haushaltsplans als Planungsinstrument.

cc) Während Verstöße gegen das Vorherigkeitsgebot beim Erlass des Stammhaushalts mit Blick auf die Systematik von Art. 111 GG sanktionslos bleiben, kann dies nicht auf einen verspäteten Nachtragshaushalt übertragen werden. Art. 111 GG erlaubt der Bundesregierung für eine etatlose Zeit eine vorläufige Haushalts- und Wirtschaftsführung über die Einräumung gewisser Nothaushaltskompetenzen. Für den Fall eines verspäteten Nachtragshaushaltes gibt es jedoch keine dem Art. 111 GG entsprechende Vorschrift.

2. An diesen Maßstäben gemessen ist das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz 2021 mit Art. 110 Abs. 2 Satz 1 GG unvereinbar.

a) Die Verabschiedung des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes für das Jahr 2021 nach Ablauf des Haushaltsjahres 2021 widerspricht dem Haushaltsgrundsatz der Vorherigkeit.

Dass die rückwirkende Änderung des Haushaltsgesetzes 2021 durch das Zweite Nachtragshaushaltsgesetz die Funktion eines Haushaltsgesetzes als Planungsinstrument verfehlt, ergibt sich insbesondere aus der Gesetzesbegründung. Dort weist die Bundesregierung darauf hin, dass staatliche Maßnahmen zur Pandemiebekämpfung für das Haushaltsjahr 2021 nicht mehr umsetzbar seien.

b) Unabhängig von der Frage, ob eine Rechtfertigung dieses Verstoßes überhaupt in Betracht kommt, sind Gründe hierfür weder vorgetragen noch sonst ersichtlich. Dem Gesetzentwurf sind keine Ausführungen hierzu zu entnehmen.

III. Die Unvereinbarkeit von Art. 1 und Art. 2 des Zweiten Nachtragshaushaltsgesetzes 2021 mit dem Grundgesetz führt zur Nichtigkeit des Gesetzes.



 

Corona-Sonderzahlung für Beamte im Sabbat-Modell
Münster, 15. November 2023 - Beamten in Teilzeit im Blockmodell ("Sabbat-Modell"), die am Stichtag 29.11.2021 während der sogenannten Ansparphase ihren Dienst mit regelmäßiger Arbeitszeit erbracht haben, steht die Corona-Sonderzahlung in ungeminderter Höhe zu. Das hat das Oberverwaltungsgericht am 31.10.2023 nach mündlicher Verhandlung entschieden und damit das erstinstanzliche Urteil des Verwaltungsgerichts Gelsenkirchen bestätigt.


Die Klägerin aus Herne ist beamtete Grundschullehrerin. Ihr wurde ab dem 01.08.2021 über einen Zeitraum von sieben Jahren Teilzeitbeschäftigung im Blockmodell bewilligt. Danach arbeitet sie während der fünfjährigen Ansparphase im Umfang der regelmäßigen Arbeitszeit (28 Stunden pro Woche), erhält aber nur die Besoldung eines Beamten in Teilzeit mit 20 Stunden pro Woche und wird anschließend für zwei Jahre bei unveränderter Teilzeitbesoldung vom Dienst befreit.

Auf der Grundlage des Corona-Sonderzahlungsgesetzes erhielt die Klägerin im März 2022 einmalig 928,59 Euro ausgezahlt. Das Landesamt für Besoldung und Versorgung (LBV) lehnte ihren Antrag ab, ihr die Corona-Sonderzahlung in voller Höhe von 1.300,- Euro zu gewähren und daher 371,41 Euro nachzuzahlen. Es verwies darauf, dass sich die Klägerin am Stichtag des 29.11.2021 in Teilzeit befunden und sich die Corona-Sonderzahlung deswegen vermindert habe.

Der dagegen gerichteten Klage gab das Verwaltungsgericht Gelsenkirchen statt. Die Berufung des beklagten Landes blieb erfolglos. Zur Begründung seines Urteils hat der 3. Senat im Wesentlichen ausgeführt: Die der Klägerin zu gewährende Corona-Sonderzahlung ist nicht wegen ihrer zum maßgeblichen Stichtag (29.11.2021) bereits begonnenen Teilzeit vermindert. Teilzeit im Blockmodell ist nicht als „Teilzeit“ im Sinne des Corona-Sonderzahlungsgesetzes zu verstehen, für die eine Minderung der Sonderzahlung in entsprechender Anwendung der teilzeitbedingten Besoldungskürzung geregelt ist.


Gesetz sind sowohl der Anspruch auf die Corona-Sonderzahlung dem Grunde nach als auch dessen Höhe von den Verhältnissen am maßgeblichen gesetzlichen Stichtag abhängig. Diese stichtagsbezogene Ausgestaltung der Sonderzahlung passt mit der Ermäßigung der Arbeitszeit im Blockmodell, die sich über einen mehrjährigen Zeitraum verteilt, nicht überein. Mithin ist für die Gewährung der Sonderzahlung in voller Höhe entscheidend, dass die Klägerin zum maßgeblichen Stichtag ihren Dienst mit regulärem Beschäftigungsumfang verrichtet hat.


Eine solche Gesetzesauslegung trägt dem mit der Sonderzahlung verfolgten Sinn und Zweck Rechnung. Diese einmalige Zuwendung sollte durch die COVID-19-Pandemie bedingte außergewöhnliche (Arbeits-)Belastungen ausgleichen sowie die besondere Einsatzbereitschaft der Anspruchsberechtigten würdigen. Auf die Besoldungskürzung bei Teilzeitbeschäftigung hebt das CoronaSonderzahlungsgesetz für die Minderung der Anspruchshöhe auch nicht im Sinne einer strikt einzuhaltenden Maßgabe ab. Es verweist in diesem Zusammenhang lediglich auf eine „entsprechende“ Anwendung des Besoldungsrechts.

Jedenfalls aber ist - wie vom Verwaltungsgericht angenommen - die im CoronaSonderzahlungsgesetz geregelte Minderung in Fällen der Teilzeitbeschäftigung für Anspruchsberechtigte im Blockmodell teleologisch zu reduzieren. Teilzeitbeschäftigte Beamte wie die Klägerin, die in der Ansparphase zum maßgeblichen Stichtag mit der vollen Wochenstundenzahl gearbeitet haben, waren nach der Wertung des Gesetzgebers durch die Folgen der COVID-19-Pandemie in ungleich höherem Maße betroffen als Beamte mit ermäßigter Arbeitszeit.


Maßgeblicher Gradmesser für die pandemiebedingte Betroffenheit, um deren Ausgleich es geht, ist nach dem Willen des Gesetzgebers die geleistete Arbeitszeit unter "Corona-Bedingungen" zum Stichtag. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet. Aktenzeichen: 3 A 295/23 (I. Instanz: VG Gelsenkirchen - 1 K 2557/22 -

 

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde wegen überhöhter Belastungsgrenze für Zuzahlungen zu Krankenkassenleistungen

Karlsruhe, 3. November 2023 - Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts einer Verfassungsbeschwerde stattgegeben, die sich gegen eine sozialgerichtliche Entscheidung über die Höhe der Belastungsgrenze für Zuzahlungen zu Leistungen der gesetzlichen Krankenversicherung richtet. Die Sache wird an das Sozialgericht zurückverwiesen. Gesetzlich Krankenversicherte müssen zu bestimmten Krankenkassenleistungen Zuzahlungen erbringen.

Diese Zuzahlungen sind begrenzt durch eine Belastungsgrenze von regelmäßig 2 % des jährlichen Bruttoeinkommens. Für Bezieher bestimmter Sozialleistungen wird die Belastungsgrenze nach der Regelbedarfsstufe 1 des SGB XII bestimmt, sodass ihnen geringere Zuzahlungen zugemutet werden. Die gesetzlich versicherte Beschwerdeführerin lebt in einem Pflegeheim. Mit Ausnahme eines Betrags von 143,92 Euro setzte sie ihre gesamte Altersrente für den Eigenanteil an den Heimkosten ein.


Auf Antrag der Beschwerdeführerin setzte ihre Krankenkasse die Belastungsgrenze für Zuzahlungen von 132,04 Euro für das Jahr 2022 fest, wobei sie ihre, im Vergleich mit der Regelbedarfsstufe 1 höheren Renteneinkünfte heranzog. Die hiergegen von der Beschwerdeführerin erhobene Klage wies das Sozialgericht zurück. Zur Begründung führte es aus, § 62 Abs. 2 Satz 5 SGB V, wonach die Belastungsgrenze anhand der Regelbedarfsstufe 1 zu ermitteln ist, sei nicht anwendbar.


Erforderlich wäre eine Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung gemäß des 3. Kapitels des SGB XII. Dies sei nicht der Fall. Der angegriffene Gerichtsbescheid des Sozialgerichts verletzt Art. 3 Abs. 1 GG in seiner Ausprägung als Willkürverbot. Die Annahme des Sozialgerichts, eine Kostenübernahme für die Unterbringung in einem Heim im Sinne des § 62 Abs. 2 Satz 5 Nr. 2 SGB V setze die Kostenübernahme für Unterkunft und Verpflegung voraus, die nach dem 3. Kapitel des SGB XII erfolge, entbehrt jeder nachvollziehbaren Grundlage.

 

 

Oktober 2023

Sondernutzungsgebühren für Abstellen von E-Scootern zulässig, pauschale Jahresgebühr aber rechtswidrig

Münster, 26. Oktober 2023 - Für das Abstellen von E-Scootern im öffentlichen Straßenraum im sogenannten Free-Floating-System darf die Stadt Köln von den Betreibern Sondernutzungsgebühren erheben. Die pauschale Festsetzung einer Jahresgebühr für E-Scooter bei einer nur fünfmonatigen Nutzung ist hingegen rechtswidrig. Das hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 26.10.2023 im Hauptsacheverfahren entschieden und damit seinen Eilbeschluss vom 11.05.2023 bestätigt.>

 Die Firma TIER hatte unter dem 27.07.2022 für die Zeit bis zum 31.12.2022 bei der Stadt Köln einen Antrag auf Nutzung des öffentlichen Straßenraums für den Betrieb von E-Scootern im Rahmen eines Verleihsystems gestellt. Daraufhin setzte die Stadt Sondernutzungsgebühren für 3.600 Fahrzeuge von insgesamt 383.000,- Euro fest. Sie stützte sich dabei auf ihre Sondernutzungssatzung, die die Festsetzung einer Jahresgebühr unabhängig von der Dauer der Nutzung vorgibt. Das Verwaltungsgericht Köln hat die dagegen erhobene Klage abgewiesen und wegen grundsätzlicher Bedeutung die Berufung zum Oberverwaltungsgericht zugelassen.


Die Berufung der Firma TIER hatte nun beim Oberverwaltungsgericht Erfolg. Zur Begründung seines Beschlusses hat der 11. Senat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Für das Abstellen von E-Scootern im öffentlichen Straßenraum in der von der Firma TIER praktizierten Weise dürfen Sondernutzungsgebühren erhoben werden. Es handelt sich um eine Sondernutzung, nicht um Gemeingebrauch der Straße, weil das Abstellen nicht vorwiegend der späteren Wiederinbetriebnahme der E-Scooter und damit Verkehrszwecken dient.


Im Vordergrund steht vielmehr der verkehrsfremde Zweck, den Abschluss eines Mietvertrags zu bewirken. Das Abstellen oder Parken von E-Scootern ist rechtlich genauso zu beurteilen wie der Senat das bereits im November 2020 für Mietfahrräder entschieden hat. Die Satzungsregelung und der betreffend E-Scooter geregelte Gebührentarif der Stadt Köln, die auch für eine unterjährige Sondernutzung - wie hier für einen Zeitraum von fünf Monaten - die Festsetzung der Jahresgebühr vorsehen, sind allerdings nichtig.


Die danach grundsätzlich pauschale Festsetzung der Jahresgebühr unabhängig von der Nutzungsdauer innerhalb eines Jahres verstößt gegen das Äquivalenzprinzip, der gebührenrechtlichen Ausprägung des Verhältnismäßigkeitsgrundsatzes. Mit diesem Prinzip ist es nicht vereinbar, wenn eine Sondernutzungsgebühr, mit der die für ein ganzes Jahr mit der Sondernutzung verbundenen Beeinträchtigungen und die gleichzeitig verfolgten wirtschaftlichen Interessen abgegolten werden, der Höhe nach identisch ist mit der Gebühr, die bei ansonsten unverändertem Nutzungsumfang für eine nur den Bruchteil eines Jahres erfolgende Nutzung erhoben wird.


Der Senat hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen kann Beschwerde eingelegt werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet. Aktenzeichen: 11 A 339/23 (I. Instanz: VG Köln 21 K 4974/23)


Herbst: Wer muss Bürgersteig vom Laub freihalten?  
Coburg, 26. Oktober 2023 - Reinigungspflicht kann übertragen werden Wer haftet bei Unfällen  Coburg, 26.10.2022 Viele genießen den goldenen Herbst, wenn das Laub sich langsam verfärbt. Mit sinkenden Temperaturen verlieren Bäume aber auch ihre Blätter, Niederschläge nehmen zu. Beides zusammen verwandelt Bürgersteige in Rutschbahnen. Ohne Räumen ist ein Unfall schnell passiert. 


Wer zum Besen greifen muss, regeln die meisten Kommunen in ihren Satzungen. Hier schreiben sie fest, ob und in welchem Umfang sich Hauseigentümer um die Reinigung der Bürgersteige kümmern müssen. Wer sich der Reinigungspflicht dauerhaft entzieht, begeht eine Ordnungswidrigkeit. Den Eigentümern eines Mietshauses steht es offen, die Reinigungspflicht über den Mietvertrag an die Mieter weiterzugeben. 

Gefährlich: Nasses Herbstlaub kann Bürgersteige schnell in rutschige Flächen verwandeln. Räumen ist deshalb für Hauseigentümer oder Mieter in vielen Kommunen Pflicht. Foto: HUK-COBURG


Ereignet sich ein Unfall, hat der nicht nur eine strafrechtliche Seite. Hier geht es, wie die HUK-COBURG mitteilt, auch um persönliche Haftung. Bricht sich ein Passant beispielsweise das Bein, weil vergessen wurde, die Blätter wegzufegen, muss der Verantwortliche für den Schaden aufkommen. Ohne Haftpflichtversicherung kann das teuer werden: Im geschilderten Fall können dem Geschädigten Schmerzensgeld und falls er arbeitet auch eine Entschädigung für seinen Verdienstausfall zustehen. Bleiben nach einem Unfall dauerhafte Schäden zurück, können sogar lebenslange Rentenzahlungen fällig werden.

Ob und in welchem Umfang ein säumiger Laubräumer haftet, hängt allen Regeln zum Trotz oft von den speziellen Umständen des Einzelfalls ab. Sollte der Geschädigte den Rechtsweg beschreiten, steht die Haftpflichtversicherung ihrem Kunden zur Seite. 

 

September 2023

NRW-Gerichte verurteilten im Jahr 2022 rund 137 000 Personen
September 2023 - 136 940 Personen sind im Jahr 2022 von den Gerichten in Nordrhein-Westfalen rechtskräftig verurteilt worden. Das waren 0,3 Prozent mehr als ein Jahr zuvor (2021: 136 595). Wie das Statistische Landesamt mitteilt, erfolgten die meisten der Verurteilungen aufgrund von sogenannten anderen Vermögens- und Eigentums- oder Urkundendelikten (33 945) und wegen Straftaten im Straßenverkehr (33 194).


Während die Zahl der Verurteilungen in der erstgenannten Deliktsgruppe um 3,8 Prozent niedriger ausfiel als ein Jahr zuvor (damals: 35 282), war bei den Straftaten im Straßenverkehr ein Zuwachs von 5,8 Prozent gegenüber 2021 (damals: 31 365) zu verzeichnen. In der Hauptdeliktsgruppe ANDERE VERMÖGENS- UND EIGENTUMSDELIKTE, URKUNDENDELIKTE gab es mit 14 554 die meisten Verurteilungen wegen Betrugs (§ 263 Abs. 1 StGB).


Weitere 7 215 Personen wurden aufgrund des Erschleichens von Leistungen (§ 265a StGB) verurteilt; Urkundenfälschung (§ 267 Abs. 1 StGB) führte in 4 689 Fällen zu einer Strafe. Während die Verurteilungen wegen Betrugs (−2,4 Prozent) und des Erschleichens von Leistungen (−22,3 Prozent) im Vergleich zu 2021 zurückgingen, gab es beim Straftatbestand Urkundenfälschung einen Anstieg um 33,2 Prozent. Das Führen eines Kraftfahrzeuges ohne Fahrerlaubnis oder trotz Fahrverbots (§ 21 Abs. 1 Nr. 1 StVG) war die häufigste Straftat in der Hauptdeliktsgruppe STRAFTATEN IM STRASSENVERKEHR.


Im Jahr 2022 gab es hier mit 11 387 Verurteilungen 1,3 Prozent weniger als ein Jahr zuvor. Weitere 9 217 Personen wurden 2022 wegen Trunkenheit im Verkehr (§ 316 StGB) verurteilt. Das waren 19,8 Prozent mehr als 2021. Fahrerflucht (unerlaubtes Entfernen vom Unfallort, § 142 StGB) führte in 6 110 Fällen zu einer Verurteilung (+3,1 Prozent gegenüber 2021).


Während in der Hauptdeliktsgruppe ANDERE STRAFTATEN GEGEN DIE PERSON, AUSSER IM STRASSENVERKEHR (z. B. Körperverletzung) die Verurteilungen gegenüber 2021 um 3,0 Prozent auf 19 238 stiegen, wurden im Jahr 2022 weniger Personen aufgrund von STRAFTATEN NACH ANDEREN BUNDES- UND LANDESGESETZEN (22 285; −0,2 Prozent; z. B. Straftaten nach dem Betäubungsmittelgesetz) und wegen DIEBSTAHL UND UNTERSCHLAGUNG (18 650; −3,1 Prozent) verurteilt.


Die Zahl der Verurteilungen wegen RAUB, ERPRESSUNG UND RÄUBERISCHEN ANGRIFFEN AUF KRAFTFAHRER verringerte sich um 10,1 Prozent auf 1 218 Fälle. In den Hauptdeliktsgruppen GEMEINGEFÄHRLICHE EINSCHLIESSLICH UMWELTSTRAFTEN (+8,6 Prozent; z. B. fahrlässige Brandstiftung) und STRAFTATEN GEGEN DIE SEXUELLE SELBSTBESTIMMUNG (+5,3 Prozent) gab es dagegen mehr Verurteilungen. Die absoluten Zahlen fielen mit 390 bzw. 2 390 jedoch vergleichsweise niedrig aus. (IT.NRW)

Keine erneute Eilentscheidung zur Einstufung der AfD-Bundespartei als „Verdachtsfall“
Münster, 27. September 2023 - Das Oberverwaltungsgericht hat heute den erneuten Eilantrag der AfD-Bundespartei auf Untersagung der Einstufung als „Verdachtsfall“ abgelehnt, weil das Verwaltungsgericht Köln im März 2022 bereits rechtskräftig über einen identischen Eilantrag entschieden hat. Damit darf die AfD bis zu einer Entscheidung in dem beim Oberverwaltungsgericht anhängigen Berufungsverfahren einstweilen weiterhin durch das Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall nach dem Bundesverfassungsschutzgesetz eingestuft werden.


Die antragstellende AfD hatte vor dem Verwaltungsgericht Köln dagegen geklagt, vom Bundesamt für Verfassungsschutz als Verdachtsfall eingestuft zu werden. Das Verwaltungsgericht wies die Klage mit Urteil vom 08.03.2022 ab, da es hinreichende tatsächliche Anhaltspunkte für verfassungsfeindliche, d. h. gegen die freiheitliche demokratische Grundordnung gerichtete Bestrebungen der AfD sah. Die dagegen eingelegte Berufung ist noch beim Oberverwaltungsgericht anhängig. Einen zugleich mit der Klage gestellten Antrag auf Erlass einer einstweiligen Unterlassungsanordnung lehnte das Verwaltungsgericht Köln mit Beschluss vom 10.03.2022 ab.


Nachdem der Präsident des Bundesamts für Verfassungsschutz bei der Vorstellung des aktuellen Verfassungsschutzberichts im Juni 2023 sowie im Zusammenhang mit der Europawahlversammlung der Antragstellerin im Juli und August 2023 verschiedene Äußerungen zu dieser tätigte, beantragte die AfD beim Oberverwaltungsgericht als Gericht der Hauptsache - wegen des hier anhängigen Berufungsverfahrens - die Unterlassung der Einstufung und Bekanntgabe sowohl als Verdachtsfall als auch als „gesichert extremistische Bestrebung“.


Betreffend die von der Antragstellerin befürchtete „Hochstufung“ zur „gesichert extremistischen Bestrebung“ hat sich das Oberverwaltungsgericht für unzuständig erklärt und das Eilverfahren mit Beschluss vom 22.09.2023 an das erstinstanzlich zuständige Verwaltungsgericht Köln verwiesen.

Den verbleibenden Eilantrag auf Unterlassung der Einstufung und Bekanntgabe als Verdachtsfall hat das Oberverwaltungsgericht heute abgelehnt. Zur Begründung seines Eilbeschlusses hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Der rechtskräftige Beschluss des Verwaltungsgerichts Köln vom 10.03.2022 steht einer erneuten gerichtlichen Nachprüfung der im Vergleich zum damaligen Verfahren identischen Eilanträge entgegen.


Bei den aktuellen Eilanträgen geht es nicht um die Rechtswidrigkeit der konkreten Äußerungen des Präsidenten des Bundesamts an sich, sondern allein um die Argumentation der Antragstellerin, ihre Einstufung als Verdachtsfall sei rechtswidrig und müsse bis zur Rechtskraft einer Hauptsachenentscheidung vorläufig untersagt werden. Eine solche vorübergehende Regelung hat das Verwaltungsgericht jedoch mit Bindungswirkung auch für die neuen Eilanträge bereits im Frühjahr 2022 abgelehnt. Die von der Antragstellerin nunmehr vorgebrachten Umstände im Zusammenhang mit den Äußerungen des Präsidenten des Bundesamts stellen keine entscheidungserhebliche Änderung der Sach- oder Rechtslage gegenüber der früheren Eilentscheidung dar.


Bis zu der mündlichen Verhandlung über die anhängigen Berufungsverfahren darf die Antragstellerin damit durch das Bundesamt für Verfassungsschutz weiter als Verdachtsfall eingestuft und dies entsprechend bekannt gegeben werden. Der Beschluss ist unanfechtbar. Aktenzeichen: 5 B 757/23


Wann in den drei Berufungsverfahren der AfD gegen die Bundesrepublik Deutschland, vertreten durch das Bundesamt für Verfassungsschutz, eine mündliche Verhandlung stattfindet, steht noch nicht fest. Anhängig sind beim Oberverwaltungsgericht die Berufungsverfahren 5 A 1218/22 (Einstufung der AfD als Verdachtsfall), 5 A 1216/22 (Einstufung des sogenannten „Flügels“ als Verdachtsfall und als „gesichert extremistische Bestrebung“) sowie 5 A 1217/22 (Einstufung der „Jungen Alternative“ als Verdachtsfall).

 



Zusatzversorgung der Angestellten und Arbeiter im öffentlichen Dienst: Bundesgerichtshof bestätigt Wirksamkeit der im März 2018 erneut geänderten Startgutschriftenregelung der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) für rentenferne Versicherte



Karlsruhe, 20. September 2023 - Der unter anderem für das Versicherungsvertragsrecht zuständige IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit heute verkündetem Urteil die Wirksamkeit der im März 2018 erneut geänderten Startgutschriftenregelung für rentenferne Versicherte der Versorgungsanstalt des Bundes und der Länder (VBL) bestätigt.


Hintergrund: Die VBL hat die Aufgabe, Angestellten und Arbeitern der an ihr beteiligten Arbeitgeber des öffentlichen Dienstes im Wege privatrechtlicher Versicherung eine zusätzliche Alters-, Erwerbsminderungs- und Hinterbliebenenversorgung zu gewähren. Mit Neufassung ihrer Satzung (VBLS) vom 22. November 2002 stellte die VBL ihr Zusatzversorgungssystem rückwirkend zum 31. Dezember 2001 (Umstellungsstichtag) von einem an der Beamtenversorgung orientierten Gesamtversorgungssystem auf ein auf dem Punktemodell beruhendes, beitragsorientiertes Betriebsrentensystem um.


Die neugefasste Satzung enthält - auf der Grundlage entsprechender tarifvertraglicher Vereinbarungen - Übergangsregelungen zum Erhalt von bis zur Systemumstellung erworbenen Rentenanwartschaften. Diese werden als so genannte Startgutschriften den Versorgungskonten der Versicherten gutgeschrieben. Dabei werden Versicherte, deren Versorgungsfall zum Umstellungsstichtag noch nicht eingetreten war, in rentennahe und rentenferne Versicherte unterschieden. Grundsätzlich ist rentenfern, wer am 1. Januar 2002 das 55. Lebensjahr noch nicht vollendet hatte. Das betraf zum Umstellungsstichtag ca. 1,7 Mio. Versicherte.


Die Startgutschrift rentenferner Versicherter nach § 79 Abs. 1 VBLS i.V.m. § 18 Abs. 2 BetrAVG wird - vereinfacht dargestellt - in zwei Rechenschritten ermittelt: In einem ersten Rechenschritt wird die so genannte Voll-Leistung berechnet, die die vom Versicherten bei der VBL maximal erzielbare, fiktive Vollrente beschreibt. Dazu wird von der dem Versicherten zum Umstellungsstichtag fiktiv zustehenden Gesamtversorgung, der so genannten Höchstversorgung, dessen voraussichtliche Grundversorgung, d.h. seine gesetzliche Rente, in Abzug gebracht.


In einem zweiten Schritt wird rentenfernen Versicherten als Startgutschrift zunächst für jedes Jahr ihrer Pflichtversicherung in der Zusatzversorgung des öffentlichen Dienstes anteilig ein Prozentsatz (sog. Anteilssatz) dieser Voll-Leistung gutgeschrieben. Der Anteilssatz betrug zunächst 2,25 %. Diese Übergangsregelung erklärte der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs mit Urteil vom 14. November 2007 (IV ZR 74/06) wegen eines Verstoßes gegen den allgemeinen Gleichheitssatz aus Art. 3 Abs. 1 GG für unverbindlich und beanstandete insbesondere eine gleichheitswidrige Benachteiligung von Versicherten mit langen Ausbildungszeiten (dazu Pressemitteilung 173/2007).


Daraufhin ergänzten die Tarifvertragsparteien und ihnen folgend die VBL die Startgutschriftenregelung um eine Vergleichsberechnung in § 79 Abs. 1a VBLS, die unter näher geregelten Voraussetzungen zu einer Erhöhung der bisherigen Startgutschriften rentenferner Versicherte führen konnte. Mit Urteil vom 9. März 2016 (IV ZR 9/15) entschied der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs, dass die solcherart geänderte Übergangsregelung weiterhin zu einer gegen Art. 3 Abs. 1 GG verstoßenden Ungleichbehandlung führe und deshalb ebenfalls unverbindlich sei (dazu Pressemitteilung 53/2016).


Mit Änderungstarifvertrag von Juni 2017 einigten sich die Tarifvertragsparteien darauf, im Rahmen der Ermittlung der Startgutschrift den bisherigen Anteilssatz von 2,25 % durch einen variablen Anteilssatz zu ersetzen. Dieser beträgt, in Abhängigkeit von den Pflichtversicherungszeiten, die der jeweilige Versicherte bis zum Eintritt des 65. Lebensjahrs erreichen kann, zwischen 2,25 % und 2,5 %. Die VBL übernahm diese Neuregelung mit Wirkung zum März 2018 in § 79 Abs. 1 Satz 3 bis 8 ihrer Satzung.


Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf
Die hiesige Klägerin ist rentenferne Versicherte bei der beklagten VBL und bezieht von dieser seit August 2014 eine Versorgungsrente. Sie hält auch die nochmals geänderte Übergangsregelung für unwirksam und erstrebt eine nach dem vor der Systemumstellung geltenden Satzungsrecht ermittelte Rente, hilfsweise eine abweichende Berechnung ihrer Startgutschrift unter Berücksichtigung verschiedener ihr günstiger Berechnungsgrundlagen und äußerst hilfsweise die Feststellung der Unverbindlichkeit der ermittelten Startgutschrift.


Ihre Klage ist in beiden Vorinstanzen erfolglos geblieben. Das Berufungsgericht hat die nunmehrige Übergangsregelung für wirksam gehalten und insbesondere einen Verstoß der Startgutschriftenregelung gegen Art. 3 Abs. 1 GG sowie eine Diskriminierung rentenferner Versicherter wegen ihres Lebensalters und ihres Geschlechts verneint.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der IV. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat in einer Grundsatzentscheidung vom heutigen Tag die Revision der Klägerin gegen das Berufungsurteil zurückgewiesen. Das Berufungsgericht hat ohne Rechtsfehler angenommen, dass die für rentenferne Versicherte getroffene Übergangsregelung wirksam ist. Die Klägerin hat keinen Anspruch auf eine anderweitige Berechnung ihrer Startgutschrift. Es begegnet keinen rechtlichen Bedenken, dass bei der Ermittlung der Startgutschrift für die Berechnung der Voll-Leistung die von der Höchstversorgung in Abzug zu bringende voraussichtliche gesetzliche Rente des Versicherten nicht individualisiert, sondern nach dem bei der Berechnung von Pensionsrückstellungen allgemein zulässigen Verfahren (dem so genannten Näherungsverfahren) zu ermitteln ist.


Die Anwendung des Näherungsverfahrens verstößt namentlich nicht gegen den allgemeinen Gleichheitssatz. Zwar kann sich die Anwendung des Näherungsverfahrens im Vergleich zu einer individualisierten Berechnung der fiktiven gesetzlichen Rente ungünstig auswirken. Die mit dieser Ungleichbehandlung im Einzelfall verbundenen Härten und Ungerechtigkeiten sind aber hinzunehmen. Insbesondere bei der Ordnung von Massenerscheinungen und der Regelung hochkomplizierter Materien, wie der Zusatzversorgung im öffentlichen Dienst, können typisierende und generalisierende Regelungen zulässig sein.


Ohne Rechtsfehler ist das Berufungsgericht davon ausgegangen, dass die ausschließliche Anwendung des Näherungsverfahrens die verfassungsmäßigen Grenzen einer zulässigen Typisierung und Standardisierung einhält. Die Anwendung des Näherungsverfahrens bewirkt ferner keine unzulässige Benachteiligung wegen des Geschlechts. Insbesondere liegt keine unzulässige Benachteiligung weiblicher rentenferner Versicherter vor.


Die Feststellungen des Berufungsgerichts zeigen, dass sich die Anwendung des Näherungsverfahrens nicht auf einen signifikant höheren Anteil der weiblichen Versicherten ungünstig auswirkt. Infolge von Lücken in der Erwerbsbiografie, etwa aufgrund von Kinderbetreuungszeiten, benachteiligte weibliche (und männliche) Versicherte werden zudem dadurch begünstigt, dass bei der Berechnung der Gesamtversorgung zu ihren Gunsten ebenfalls eine lückenlose Erwerbsbiografie unterstellt wird.


Aus Rechtsgründen ist ebenfalls nicht zu beanstanden, dass der Startgutschriftenermittlung nunmehr ein gleitender Anteilssatz von 2,25 % bis 2,5 % für jedes Jahr der Pflichtversicherung zugrunde liegt. Durch die Einführung des gleitenden Anteilssatzes können bei einem angenommenen Renteneintritt mit 65 Lebensjahren nunmehr - anders als noch nach der Vorgängerregelung - auch Versicherte mit einem Diensteintrittsalter zwischen 20 Jahren und sieben Monaten und 25 Jahren theoretisch eine Startgutschrift von 100 % der Voll-Leistung und damit die höchstmögliche Versorgung erreichen.


Damit entfällt insbesondere die bisherige Benachteiligung von Versicherten mit längeren Ausbildungszeiten, die nach einem Studium oder einer Ausbildung außerhalb des öffentlichen Dienstes üblicherweise bis zum 25. Lebensjahr in den öffentlichen Dienst eintreten. Es verstößt weder gegen den allgemeinen Gleichheitssatz noch bewirkt es eine unzulässige Benachteiligung wegen des Alters, dass Versicherten mit einem Eintrittsalter von mehr als 25 Jahren infolge der Deckelung des Anteilssatzes auf 2,5 % weiterhin die höchstmögliche Versorgung auch theoretisch nicht erreichen können.


In Anbetracht eines typischen Erwerbslebens von mindestens 40 Jahren ist es nicht zu beanstanden, dass Versicherte die höchstmögliche Versorgung lediglich unter der Voraussetzung einer erreichbaren Pflichtversicherungszeit von mindestens 40 Jahren erzielen können. Dies gilt auch, soweit diese Versicherten keine Erhöhung der Startgutschrift nach § 79 Abs. 1a VBLS erhalten. Wie das Berufungsgericht zutreffend ausgeführt hat, wird die Regelung in § 79 Abs. 1a VBLS lediglich im Hinblick auf das schützenswerte Vertrauen derjenigen Versicherten aufrechterhalten, denen nach der bisherigen Vergleichsberechnung noch ein Zuschlag zusteht.


Der gleitende Anteilssatz bewirkt ferner keine neue unzulässige Ungleichbehandlung wegen des Alters der vor Vollendung des 25. Lebensjahres in den öffentlichen Dienst eingetretenen Versicherten. Zwar fällt für diese Versicherten der gleitende Anteilssatz - begrenzt auf mindestens 2,25 % - desto kleiner aus, je jünger sie in den öffentlichen Dienst eingetreten sind. Das bewirkt jedoch unter Berücksichtigung des weiten Gestaltungsspielraums der Tarifvertragsparteien keine unzulässige Diskriminierung wegen des Alters, sondern wahrt das der betrieblichen Altersversorgung im öffentlichen Dienst zugrundeliegende Prinzip, die Betriebstreue des Versicherten im öffentlichen Dienst zu honorieren.


Die Übergangsregelung für rentenferne Versicherte ist schließlich auch unter dem Gesichtspunkt der Verteilungsgerechtigkeit nicht zu beanstanden. Eine einseitige Belastung bestimmter Versichertengruppen wie bei der früheren Übergangsregelung liegt nicht mehr vor.


Vorinstanzen: Landgericht Karlsruhe - Urteil vom 29. Mai 2020 - 6 O 184/19 Oberlandesgericht Karlsruhe - Urteil vom 17. März 2022 - 12 U 106/20 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 79 VBLS: (1)

1Die Anwartschaften der am 31. Dezember 2001 schon und am 1. Januar 2002 noch Pflichtversicherten berechnen sich nach § 18 Abs. 2 BetrAVG, soweit sich aus Absatz 2 nichts anderes ergibt. …

3Bei Anwendung von Satz 1 ist an Stelle des Faktors von 2,25 v. H. nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG der Faktor zu berücksichtigen, der sich ergibt, indem 100 v. H. durch die Zeit in Jahren vom erstmaligen Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ende des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird, geteilt werden.

4Die Zeit in Jahren wird aus der Summe der (Teil-)Monate berechnet. 5Ein Teilmonat wird ermittelt, indem die Pflichtversicherungszeit unabhängig von der tatsächlichen Anzahl der Tage des betreffenden Monats durch 30 dividiert wird.

6Die sich nach Satz 4 und 5 ergebenden Werte werden jeweils auf zwei Nachkomma-stellen gemeinüblich gerundet. 7Der sich nach Satz 3 durch die Division mit der Zeit in Jahren ergebende Faktor wird auf vier Nachkommastellen gemeinüblich gerundet. 8Der Faktor beträgt jedoch mindestens 2,25 v. H. und höchstens 2,5 v. H. …

(1a) 1Bei Beschäftigten, deren Anwartschaft nach Absatz 1 (rentenferne Jahrgänge) berechnet wurde, wird auch ermittelt, welche Anwartschaft sich bei einer Berechnung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG unter Berücksichtigung folgender Maßgaben ergeben würde: 1. 1Anstelle des Vomhundertsatzes nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG wird ein Unverfallbarkeitsfaktor entsprechend § 2 Abs. 1 Satz 1 BetrAVG errechnet.

2Dieser wird ermittelt aus dem Verhältnis der Pflichtversicherungszeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum 31. Dezember 2001 zu der Zeit vom Beginn der Pflichtversicherung bis zum Ablauf des Monats, in dem das 65. Lebensjahr vollendet wird. 3Der sich danach ergebende Vomhundertsatz wird auf zwei Stellen nach dem Komma gemeinüblich gerundet und um 7,5 Prozentpunkte vermindert. 2. 1Ist der nach Nummer 1 Satz 3 ermittelte Vomhundertsatz höher als der ohne Anwendung des Absatzes 1 Satz 3 nach § 18 Abs. 2 Nr. 1 Satz 1 BetrAVG berechnete Vomhundertsatz, wird für die Voll-Leistung nach § 18 Abs. 2 BetrAVG ein individueller Brutto- und Nettoversorgungssatz nach § 41 Abs. 2 und 2b d.S.a.F. ermittelt. …

 … 2Ist die unter Berücksichtigung der Maßgaben nach den Nummern 1 und 2 berechnete Anwartschaft höher als die Anwartschaft nach Absatz 1, wird der Unterschiedsbetrag zwischen diesen beiden Anwartschaften ermittelt und als Zuschlag zur Anwartschaft nach Absatz 1 berücksichtigt. … § 18 Betriebsrentengesetz (BetrAVG) …

(2) Bei Eintritt des Versorgungsfalles vor dem 2. Januar 2002 erhalten die in Absatz 1 Nummer 1 und 2 bezeichneten Personen, deren Anwartschaft nach § 1b fortbesteht und deren Arbeitsverhältnis vor Eintritt des Versorgungsfalles geendet hat, von der Zusatzversorgungseinrichtung aus der Pflichtversicherung eine Zusatzrente nach folgenden Maßgaben: 1. 1Der monatliche Betrag der Zusatzrente beträgt für jedes Jahr der aufgrund des Arbeitsverhältnisses bestehenden Pflichtversicherung bei einer Zusatzversorgungseinrichtung 2,25 vom Hundert, höchstens jedoch 100 vom Hundert der Leistung, die bei dem höchstmöglichen Versorgungssatz zugestanden hätte (Voll-Leistung). …


August 2023

OVG entscheidet zu Anforderungen an die Aufbewahrung von Waffenschrankschlüsseln Schlüssel zu einem Waffenschrank sind in einem Behältnis aufzubewahren, das seinerseits den gesetzlichen Sicherheitsstandards an die Aufbewahrung der im Waffenschrank befindlichen Waffen und Munition entspricht.


Münster, 30. August 2023 - Das hat heute das Oberverwaltungsgericht entschieden. Den Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnisse wegen unzureichender Aufbewahrung der Waffenschrankschlüssel im Einzelfall eines Jägers aus Duisburg hat es allerdings für rechtswidrig gehalten. Während einer einwöchigen Urlaubsabwesenheit wurde in das Wohnhaus des Klägers in Duisburg eingebrochen. Die Einbrecher entwendeten aus dem dortigen Waffenschrank, der unversehrt geblieben ist, zwei Kurzwaffen und diverse Munition.


Der Waffenschrank entsprach dem gesetzlich vorgeschriebenen Sicherheitsstandard für die Aufbewahrung von Waffen und Munition. Die Schlüssel zu diesem Schrank bewahrte der Kläger in derselben Wohnung in einem etwa 40 kg schweren, dick- und doppelwandigen Stahltresor mit Zahlenschoss auf. Dieser genügte allerdings nicht dem gesetzlichen Sicherheitsstandard für die Aufbewahrung der im Waffenschrank befindlichen Waffen und Munition. Daraufhin widerrief das Polizeipräsidium Duisburg die waffenrechtlichen Erlaubnisse des Klägers mit der Begründung, dieser habe Waffen und Munition nicht sorgfältig verwahrt.


Die dagegen gerichtete Klage wies das Verwaltungsgericht Düsseldorf ab. Die Berufung des Klägers gegen dieses Urteil war erfolgreich. Zur Begründung seines Urteils hat der 20. Senat im Wesentlichen ausgeführt: Die Voraussetzungen für den Widerruf der waffenrechtlichen Erlaubnisse des Klägers liegen nicht vor.


Der Kläger ist nicht waffenrechtlich unzuverlässig. Insbesondere liegen keine Tatsachen vor, die die Annahme rechtfertigen, er werde Waffen oder Munition nicht sorgfältig verwahren Allerdings hat der Kläger in der Vergangenheit objektiv gegen die gesetzlichen Anforderungen an eine sorgfältige Aufbewahrung von Waffen und Munition verstoßen, indem er die Schlüssel zum Waffenschrank in einem Tresor mit einem unzureichenden Sicherheitsstandard aufbewahrt hat.

Denn die Schlüssel zu einem Waffenschrank sind in einem Behältnis aufzubewahren, das seinerseits den gesetzlichen Sicherheitsstandards an die Aufbewahrung der im Waffenschrank befindlichen Waffen und Munition entspricht. Dem genügte der Tresor des Klägers nicht. Dieser objektive Sorgfaltsverstoß rechtfertigt eine Unzuverlässigkeitsprognose jedoch ausnahmsweise nicht, weil er dem Kläger in subjektiver Hinsicht nicht als im besonderen Maße schwerwiegend vorzuwerfen ist.


Einem juristischen Laien - wie dem Kläger - musste es sich nicht aufdrängen, dass die Waffenschrankschlüssel demjenigen gesetzlichen Sicherheitsstandard entsprechend aufzubewahren sind, der für die Aufbewahrung der Waffen und Munition gilt. Die Aufbewahrung von Waffen und Munition in Behältnissen, die mittels Schlüssel zu verschließen sind, ist gesetzlich zulässig. Konkretere gesetzliche Vorgaben, wie der Schlüssel zu einem solchen Behältnis aufzubewahren ist, fehlen jedoch, obwohl es lebensfremd ist, dass ein Waffenbesitzer stets die tatsächliche Gewalt über die Schlüssel ausüben kann.


Ebenso wenig gibt es bis zum heute verkündeten Urteil des Senats entsprechende Vorgaben der verwaltungsgerichtlichen Rechtsprechung, an denen sich Waffenbesitzer orientieren könnten und müssten. Der Kläger hat im Übrigen auch nicht etwa einfachste Maßnahmen unterlassen, um eine Ansichnahme der Waffenschrankschlüssel durch unbefugte Dritte zu verhindern, sondern mit deren Aufbewahrung in dem in Rede stehenden Stahltresor jedenfalls Vorkehrungen getroffen, die geeignet gewesen sind, einen Zugriff durch unbefugte Dritte zu verhindern, jedenfalls nicht unerheblich zu erschweren.

Nach alledem ist auch ein gröblicher Verstoß gegen waffengesetzliche Bestimmungen nicht anzunehmen. Das Oberverwaltungsgericht hat die Revision gegen das Urteil nicht zugelassen. Dagegen kann Nichtzulassungsbeschwerde erhoben werden, über die das Bundesverwaltungsgericht entscheidet. Aktenzeichen: 20 A 2384/20 (I. Instanz: VG Düsseldorf - 22 K 3002/19 -)


 

Keine Erlaubnis zur Einfuhr und Abgabe eines Betäubungsmittels zur Selbsttötung
Münster, 9. August 2023 - Das Bundesinstitut für Arzneimittel und Medizinprodukte (BfArM) ist nicht verpflichtet, einem Arzt vorläufig eine Erlaubnis unter anderem für die Einfuhr von Natrium-Pentobarbital aus der Schweiz nach Deutschland und die Abgabe dieses Betäubungsmittels an seine Patienten zum Zweck der Selbsttötung zu erteilen. Dies hat das Oberverwaltungsgericht mit heute bekannt gegebenem Eilbeschluss vom 08.08.2023 entschieden und damit eine Entscheidung des Verwaltungsgerichts Köln im Ergebnis bestätigt.


Der Antragsteller ist Leiter des Ärzteteams des Vereins Sterbehilfe in Hamburg. Er möchte seinen Patienten, die ihrem Leben ein Ende setzen wollen, das Betäubungsmittel Natrium-Pentobarbital zu ihrer eigenen Verfügung überlassen. Da das Mittel in Deutschland derzeit nicht über Apotheken bezogen werden kann, will er es mit Hilfe der Geschäftsstelle Zürich des Vereins aus der Schweiz nach Deutschland einführen. Das Verwaltungsgericht Köln lehnte den entsprechenden Eilantrag ab, die Beschwerde des Arztes hatte beim Oberverwaltungsgericht keinen Erfolg.

Der 9. Senat hat zur Begründung ausgeführt: Der Erteilung einer Erlaubnis an den Antragsteller zur Abgabe von Natrium-Pentobarbital an seine Patienten steht der Versagungsgrund des § 5 Abs. 1 Nr. 6 des Betäubungsmittelgesetzes (BtMG) entgegen. Ärzte sind nach der Konzeption des Gesetzes nicht berechtigt, ihren Patienten Betäubungsmittel abzugeben, d. h. ihnen Betäubungsmittel zur freien Verfügung zu überlassen.

Der Verkehr mit Betäubungsmitteln durch einen Arzt im Verhältnis zu seinen Patienten ist in § 13 Abs. 1 BtMG geregelt. Hiernach darf der Arzt Betäubungsmittel jedoch nur verschreiben, verabreichen oder seinen Patienten zum unmittelbaren Verbrauch überlassen. Allen drei Handlungsformen ist gemeinsam, dass der Patient unmittelbar keine eigene Verfügungsgewalt über das Betäubungsmittel erlangt. Zwar kann der Patient aufgrund einer ärztlichen Verschreibung Betäubungsmittel zur freien Verfügung erhalten.

Die Abgabe eines verschriebenen Betäubungsmittels an die Patienten ist nach der abschließenden gesetzlichen Regelung des § 13 Abs. 2 BtMG jedoch zur Vermeidung eines Betäubungsmittelmissbrauchs allein Apotheken vorbehalten.
Der Beschluss ist unanfechtbar. Aktenzeichen: 9 B 194/23 (I. Instanz: VG Köln 7 L 1410/22)

Gesetz über den Verkehr mit Betäubungsmitteln (Betäubungsmittelgesetz - BtMG) § 5 Versagung der Erlaubnis (1) Die Erlaubnis nach § 3 ist zu versagen, wenn 6. die Art und der Zweck des beantragten Verkehrs nicht mit dem Zweck dieses Gesetzes, die notwendige medizinische Versorgung der Bevölkerung sicherzustellen, daneben aber den Missbrauch von Betäubungsmitteln oder die missbräuchliche Herstellung ausgenommener Zubereitungen sowie das Entstehen oder Erhalten einer Betäubungsmittelabhängigkeit soweit wie möglich auszuschließen, vereinbar ist. § 13 Verschreibung und Abgabe auf Verschreibung (1)

Die in Anlage III bezeichneten Betäubungsmittel dürfen nur von Ärzten, Zahnärzten und Tierärzten und nur dann verschrieben oder im Rahmen einer ärztlichen, zahnärztlichen oder tierärztlichen Behandlung einschließlich der ärztlichen Behandlung einer Betäubungsmittelabhängigkeit verabreicht oder einem anderen zum unmittelbaren Verbrauch oder nach Absatz 1a Satz 1 überlassen werden, wenn ihre Anwendung am oder im menschlichen oder tierischen Körper begründet ist. (…) (2) Die nach Absatz 1 verschriebenen Betäubungsmittel dürfen nur im Rahmen des Betriebs einer Apotheke und gegen Vorlage der Verschreibung abgegeben werden. (...)

 

Juli 2023

Bundesgerichtshof zum Differenzschaden in "Dieselverfahren"

Karlsruhe, 20. Juli 2023 - Urteil vom 20. Juli 2023 - III ZR 267/20
Der unter anderem für Schadensersatzansprüche aus unerlaubten Handlungen, die den Vorwurf einer unzulässigen Abschalteinrichtung bei einem Kraftfahrzeug mit Dieselmotor zum Gegenstand haben, zuständige III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute im Anschluss an die Entscheidungen des VIa. Zivilsenats des Bundesgerichtshofs vom 26. Juni 2023 (VIa ZR 335/21, VIa ZR 533/21, VIa ZR 1031/22;

Differenzschaden in "Dieselverfahren" nach dem Urteil des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 21. März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) entschieden.


Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf: Die Klägerin erwarb im Oktober 2016 von einem Autohaus einen gebrauchten Mercedes-Benz V 250 Edition lang, der mit einem Motor der Baureihe OM 651 ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Die Klägerin macht geltend, der Motor in ihrem Fahrzeug sei mit zwei unzulässigen Abschalteinrichtungen versehen, nämlich einem die Abgasrückführung steuernden Thermofenster sowie einer Abschalteinrichtung, die sich aus der Wirkungsweise des SCR-Katalysators ergebe.

Die Klägerin verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, sie so zu stellen, als habe sie den das Fahrzeug betreffenden Kaufvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Mit der vom Berufungsgericht zugelassenen Revision verfolgt die Klägerin ihre Berufungsanträge im Wesentlichen weiter.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der III. Zivilsenat hat auf die Revision der Klägerin das Berufungsurteil mit Ausnahme eines auf die Zurückweisung von Zinsansprüchen entfallenden Teils aufgehoben und die Sache zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht einen Schadensersatzanspruch der Klägerin gegen die Beklagte aus §§ 826, 31 BGB mit der Begründung verneint, die Ausstattung und das Inverkehrbringen des Fahrzeugs der Klägerin mit einer temperaturbeeinflussten Steuerung der Abgasrückführung (Thermofenster) reiche nicht aus, um von einem sittenwidrigen Verhalten der Beklagten auszugehen.

Weitere Abschalteinrichtungen hat das Berufungsgericht nicht festgestellt, ohne dass die Revision hierzu eine durchgreifende Verfahrensrüge erhoben hat. Hinsichtlich einer Haftung der Beklagten aus § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV hat sich der III. Zivilsenat der Rechtsprechung des VIa. Zivilsenats angeschlossen, nach der unter den dort normierten Voraussetzungen dem Käufer eines mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 versehenen Kraftfahrzeugs ein Anspruch gegen den Fahrzeughersteller auf Ersatz des Differenzschadens zusteht (dazu Pressemitteilung Nr. 100/2023).

Danach konnte das angefochtene Urteil keinen Bestand haben. Die Sache war zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückzuverweisen, damit das Berufungsgericht eine Haftung der Beklagten aus unerlaubter Handlung weiter aufklärt. Vorinstanzen: Landgericht Halle - Urteil vom 17. September 2019 - 4 O 44/19 Oberlandesgericht Naumburg - Urteil vom 31. August 2020, berichtigt durch Beschluss vom 5. Oktober 2020 - 12 U 161/19

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: Bürgerliches Gesetzbuch: § 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet. § 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. Artikel 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) (1)

Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. (2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig. Dies ist nicht der Fall, wenn:


a)die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten;

b)die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist; c)die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind. § 6 Abs. 1 Satz 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung

(1) Für jedes dem genehmigten Typ entsprechende Fahrzeug hat der Inhaber der EG-Typgenehmigung eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Artikel 18 in Verbindung mit Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG auszustellen und dem Fahrzeug beizufügen. § 27 Abs. 1 Satz 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung


(1) Neue Fahrzeuge, selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, für die eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG, nach Anhang IV der Richtlinie 2002/24/EG oder nach Anhang III der Richtlinie 2003/37/EG vorgeschrieben ist, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind.


Bundesgerichtshof weist Nichtzulassungsbeschwerde im Streit um die Wirksamkeit des Kaufvertrags über das Wasserschloss Kalkum zurück
Beschluss vom 29. Juni 2023 – V ZR 155/22

Karlsruhe, 17. Juli 2023 - Der unter anderem für Ansprüche aus Verträgen über Grundstücke zuständige V. Zivilsenat hat die gegen das Urteil des Oberlandesgerichts Düsseldorf vom 21. Juli 2022 (21 U 14/22) von dem Beklagten eingelegte Beschwerde gegen die Nichtzulassung der Revision zurückgewiesen.

Mit seiner Klage begehrt das Land Nordrhein-Westfalen gegenüber dem Beklagten die Feststellung, dass der notarielle Kaufvertrag zwischen den Parteien über die Liegenschaft Schloss Kalkum nicht wirksam zustande gekommen ist und der Beklagte als Käufer aus der notariellen Kaufvertragsurkunde keine Rechte und Ansprüche geltend machen kann.

Widerklagend erstrebt der Beklagte die Genehmigung des notariellen Kaufvertrags durch das klagende Land. Die Klage hatte in den Vorinstanzen Erfolg, während die Widerklage erfolglos blieb. Das Oberlandesgericht hat die Revision nicht zugelassen. Dagegen wendet sich der Beklagte mit seiner Nichtzulassungsbeschwerde.

Die Nichtzulassungsbeschwerde hat keinen Erfolg. Die Rechtssache hat weder grundsätzliche Bedeutung noch erfordert die Fortbildung des Rechts oder die Sicherung einer einheitlichen Rechtsprechung eine Entscheidung des Revisionsgerichts (§ 543 Abs. 2 Satz 1 ZPO). Von einer näheren Begründung hat der Senat - wie üblich - gemäß § 544 Abs. 6 Satz 2 Halbsatz 2 ZPO abgesehen.

Vorinstanzen: LG Düsseldorf – Urteil vom 14. Dezember 2021 – 7 O 60/20 OLG Düsseldorf – Urteil vom 21. Juli 2022 – 21 U 14

 

Erfolgreicher Eilantrag gegen die Gestaltung des Gesetzgebungsverfahrens zum Gebäudeenergiegesetz Pressemitteilung

Karlsruhe, 5. Juli 2023 - Mit Beschluss vom heutigen Tage hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts dem Deutschen Bundestag aufgegeben, die zweite und dritte Lesung zum Gesetzentwurf der Bundesregierung zur „Änderung des Gebäudeenergiegesetzes und zur Änderung der Kehr- und Überprüfungsordnung“ (im Folgenden: Gebäudeenergiegesetz) nicht innerhalb der laufenden Sitzungswoche durchzuführen.

Der Antragsteller, ein Mitglied der CDU/CSU-Fraktion im Deutschen Bundestag, sieht sich durch das Gesetzgebungsverfahren in seinen Rechten als Mitglied des Deutschen Bundestages verletzt. Sein Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung hat in der Sache Erfolg. Der Hauptsacheantrag im Organstreitverfahren erscheint jedenfalls mit Blick auf das Recht des Antragstellers auf gleichberechtigte Teilhabe an der parlamentarischen Willensbildung aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 des Grundgesetzes (GG) weder von vornherein unzulässig noch offensichtlich unbegründet.

Die demgemäß vom Bundesverfassungsgericht vorzunehmende Folgenabwägung führt zu dem Ergebnis, dass die für den Erlass einer einstweiligen Anordnung sprechenden Gründe überwiegen. Unter den besonderen Umständen des Einzelfalls überwiegt das Interesse an der Vermeidung einer irreversiblen Verletzung der Beteiligungsrechte des Antragstellers aus Art. 38 Abs. 1 Satz 2 GG gegenüber dem Eingriff in die Verfahrensautonomie des Deutschen Bundestages, der die Umsetzung des Gesetzgebungsverfahrens lediglich verzögert. Die Entscheidung ist mit 5:2 Stimmen ergangen.

Bundesgerichtshof entscheidet erneut in einem Dieselverfahren über die Unwirksamkeit der formularmäßigen Abtretung von Ansprüchen des Käufers an die Finanzierungsbank (hier: Unwirksamkeit der Abtretungsklausel auch gegenüber Unternehmern)

Urteil, Karlsruhe, Juli 2023 – VIa ZR 155/23
Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat entschieden, dass die in den Allgemeinen Geschäftsbedingungen einer Finanzierungsbank enthaltene Klausel über die Sicherungsabtretung von Ansprüchen des Käufers und Darlehensnehmers gegen den Hersteller eines Dieselfahrzeugs Ansprüche auf Schadensersatz aus unerlaubter Handlung erfasst und auch dann unwirksam ist, wenn der Käufer nicht Verbraucher, sondern Unternehmer ist.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf
Der Kläger nimmt die beklagte Fahrzeugherstellerin wegen der Verwendung unzulässiger Abschalteinrichtungen in zwei Kraftfahrzeugen auf Schadensersatz in Anspruch. Am 20. August 2018 und am 11. März 2019 kaufte der Kläger unter seiner Firma von der Beklagten jeweils einen Neuwagen. Die Fahrzeuge sind mit Dieselmotoren der Baureihe OM 651 (Schadstoffklasse: EURO 6) ausgestattet. Den Kaufpreis finanzierte der Kläger in beiden Fällen mittels eines Darlehens bei einer Bank. Den Darlehensverträgen lagen die Allgemeinen Geschäftsbedingungen der Bank für Unternehmer zugrunde.

Dort hieß es unter anderem: "II. Sicherheiten Der Darlehensnehmer räumt der Bank zur Sicherung aller gegenwärtigen und bis zur Rückzahlung des Darlehens noch entstehenden sowie bedingten und befristeten Ansprüche der Bank aus der Geschäftsverbindung einschließlich einer etwaigen Rückabwicklung, gleich aus welchem Rechtsgrund, Sicherheiten gemäß nachstehenden Ziffern 1 und 2 ein. […] […]

2. Abtretung von sonstigen Ansprüchen

Der Darlehensnehmer tritt ferner hiermit folgende - gegenwärtige und zukünftige - Ansprüche an die Bank ab, die diese Abtretung annimmt: - […] - […] - gegen den Verkäufer für den Fall einer Rückgängigmachung des finanzierten Vertrages oder Herabsetzung der Vergütung. - gegen die […] [Beklagte], […], gleich aus welchem Rechtsgrund. Ausgenommen von der Abtretung sind Gewährleistungsansprüche aus Kaufvertrag des Darlehensnehmers gegen die […] [Beklagte] oder einen Vertreter der […] [Beklagten].

Der Darlehensnehmer hat der Bank auf Anforderung jederzeit die Namen und Anschriften der Drittschuldner mitzuteilen. […]
5. Rückgabe der Sicherheiten Die Bank verpflichtet sich, nach Wegfall des Sicherungszweckes (alle Zahlungen unanfechtbar erfolgt) sämtliche Sicherungsrechte (Abschnitt II. Ziff. 1, 2) zurückzuübertragen […]

Bestehen mehrere Sicherheiten, hat die Bank auf Verlangen des Darlehensnehmers schon vorher nach ihrer Wahl einzelne Sicherheiten oder Teile davon freizugeben, falls deren realisierbarer Wert 120% der gesicherten Ansprüche der Bank überschreitet. […]"

Der Kläger hat die Beklagte in erster Instanz in erster Linie unter dem Gesichtspunkt des Rücktritts vom Kaufvertrag und in zweiter Linie unter dem Gesichtspunkt einer deliktischen Schädigung wegen des Inverkehrbringens der Fahrzeuge auf Zahlung an sich, Freistellung von seinen Darlehensverbindlichkeiten, Feststellung des Annahmeverzugs und Erstattung vorgerichtlich verauslagter Rechtsanwaltskosten in Anspruch genommen.

Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die Berufung des Klägers, der zu dem ersten Termin zur mündlichen Verhandlung vor dem Berufungsgericht nicht erschienen ist, durch Versäumnisurteil zurückgewiesen. Dagegen hat der Kläger Einspruch eingelegt und den Rechtsstreit nach Veräußerung der Fahrzeuge an einen Dritten mit Ausnahme seiner Anträge auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten für erledigt erklärt.

Das Berufungsgericht hat das Versäumnisurteil aufrechterhalten. Mit seiner vom Berufungsgericht insoweit zugelassenen Revision verfolgt der Kläger seine zuletzt gestellten Anträge weiter, soweit er sie auf seine deliktische Schädigung durch das Inverkehrbringen der Fahrzeuge stützt. Die Beklagte hat sich im Verlauf des Revisionsverfahrens der Teilerledigungserklärung des Klägers angeschlossen.

Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat das Urteil des Berufungsgerichts zu den noch rechtshängigen Anträgen auf Erstattung vorgerichtlicher Rechtsanwaltskosten wegen zulasten des Klägers begangener unerlaubter Handlungen aufgehoben und die Sache insoweit zur neuen Verhandlung und Entscheidung an das Berufungsgericht zurückverwiesen. Das Berufungsgericht hat zwar rechtsfehlerfrei erkannt, bei den Sicherungsabtretungen von Ansprüchen gegen die Beklagte "gleich aus welchem Rechtsgrund" handele es sich um vorformulierte Allgemeine Geschäftsbedingungen, die Bestandteil der Darlehensverträge geworden seien.

Weiter im Ergebnis rechtsfehlerfrei hat das Berufungsgericht die Klauseln als nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB kontrollfähig erachtet. Nach § 307 Abs. 3 Satz 1 BGB sind Gegenstand der Inhaltskontrolle solche Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden. Die Klauseln, die der Bundesgerichtshof ohne Bindung an die Auslegung des Berufungsgerichts selbst auslegen kann, sind so zu verstehen, mit Ausnahme von Gewährleistungsansprüchen aus Kaufvertrag erfassten sie sämtliche mit dem Erwerb des Fahrzeugs in Zusammenhang stehende Ansprüche des Klägers gegen die Beklagte.

Einbezogen sind auch Ansprüche aus unerlaubter Handlung und Ansprüche nach dem Produkthaftungsgesetz, die dem Kläger und Darlehensnehmer bei der Verwendung der gekauften Fahrzeuge entstehen. Die Klauseln erfassen damit in Abweichung von der gesetzlichen Regelung auch Rentenansprüche aus § 843 BGB bzw. aus § 9 ProdHaftG, § 843 Abs. 2 bis 4 BGB im Falle einer aus der Verwendung der Fahrzeuge entstehenden Körperverletzung oder Gesundheitsbeschädigung.

Solche Ansprüche sind nach § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO bis zu einer anderslautenden Entscheidung durch das Vollstreckungsgericht nicht pfändbar und damit nach § 400 BGB nicht abtretbar. Das Berufungsgericht hat aber unzutreffend angenommen, die Abtretungsklauseln seien wirksam, so dass der Kläger nicht aktivlegitimiert sei.

Das Berufungsgericht hat dabei übersehen, dass die Klauseln einer Inhaltskontrolle nach § 307 Abs. 1 und 2 Nr. 1, §§ 134, 400 BGB, § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO ohne Wertungsmöglichkeit nicht standhalten. Sie weichen zulasten des Klägers von zwingenden Vorschriften ab. Unerheblich ist, ob der Kläger als Unternehmer oder als Verbraucher gehandelt hat. Die § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 400 BGB sind zwingendes Recht. § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO ist auch auf Renten anwendbar, die Selbständigen gezahlt werden.

Insoweit ist der persönliche Schutzbereich weiter als sonst bei Regeln über die Pfändung von Arbeitseinkommen. Die wegen ihrer Abweichung von § 850b Abs. 1 Nr. 1 ZPO, § 400 BGB ohne Wertungsmöglichkeit unwirksamen formularmäßigen Sicherungsabtretungen sämtlicher Ansprüche gegen die Beklagte mit Ausnahme solcher aus kaufrechtlicher Gewährleistung können nicht mit der Maßgabe aufrechterhalten werden, dass andere Ansprüche als solche auf Zahlung von Renten, die wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten sind, wirksam abgetreten sind.

Ein solches Verständnis liefe auf eine geltungserhaltende Reduktion hinaus, die nach ständiger Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs unzulässig ist. Die Klauseln können auch nicht in einen inhaltlich zulässigen und einen inhaltlich unzulässigen Teil zerlegt werden. Das Berufungsgericht wird nach Zurückverweisung nunmehr in der Sache zu klären haben, ob die Beklagte dem Kläger aus unerlaubter Handlung haftet.

Die maßgeblichen Vorschriften des Bürgerlichen Gesetzbuchs lauten: § 134 Gesetzliches Verbot Ein Rechtsgeschäft, das gegen ein gesetzliches Verbot verstößt, ist nichtig, wenn sich nicht aus dem Gesetz ein anderes ergibt. § 307 Inhaltskontrolle (1)

1Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen.

2Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist. (2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder 2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. (3) 1Die Absätze 1 und 2 sowie die §§ 308 und 309 gelten nur für Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen, durch die von Rechtsvorschriften abweichende oder diese ergänzende Regelungen vereinbart werden.

2Andere Bestimmungen können nach Absatz 1 Satz 2 in Verbindung mit Absatz 1 Satz 1 unwirksam sein. § 400 Ausschluss bei unpfändbaren Forderungen Eine Forderung kann nicht abgetreten werden, soweit sie der Pfändung nicht unterworfen ist. § 843 Geldrente oder Kapitalabfindung (1) Wird infolge einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit die Erwerbsfähigkeit des Verletzten aufgehoben oder gemindert oder tritt eine Vermehrung seiner Bedürfnisse ein, so ist dem Verletzten durch Entrichtung einer Geldrente Schadensersatz zu leisten.

(2) 1Auf die Rente finden die Vorschriften des § 760 Anwendung. 2Ob, in welcher Art und für welchen Betrag der Ersatzpflichtige Sicherheit zu leisten hat, bestimmt sich nach den Umständen.

(3) Statt der Rente kann der Verletzte eine Abfindung in Kapital verlangen, wenn ein wichtiger Grund vorliegt.
(4) Der Anspruch wird nicht dadurch ausgeschlossen, dass ein anderer dem Verletzten Unterhalt zu gewähren hat. Die maßgebliche Vorschrift des Produkthaftungsgesetzes lautet: § 9 Schadensersatz durch Geldrente (1) Der Schadensersatz wegen Aufhebung oder Minderung der Erwerbsfähigkeit und wegen vermehrter Bedürfnisse des Verletzten sowie der nach § 7 Abs. 2 einem Dritten zu gewährende Schadensersatz ist für die Zukunft durch eine Geldrente zu leisten.

(2) § 843 Abs. 2 bis 4 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist entsprechend anzuwenden. Die maßgebliche Vorschrift der Zivilprozessordnung lautet: § 850b Bedingt pfändbare Bezüge (1) Unpfändbar sind ferner 1. Renten, die wegen einer Verletzung des Körpers oder der Gesundheit zu entrichten sind; [… (

2) Diese Bezüge können nach den für Arbeitseinkommen geltenden Vorschriften gepfändet werden, wenn die Vollstreckung in das sonstige bewegliche Vermögen des Schuldners zu einer vollständigen Befriedigung des Gläubigers nicht geführt hat oder voraussichtlich nicht führen wird und wenn nach den Umständen des Falles, insbesondere nach der Art des beizutreibenden Anspruchs und der Höhe der Bezüge, die Pfändung der Billigkeit entspricht.

(3) Das Vollstreckungsgericht soll vor seiner Entscheidung die Beteiligten hören. Vorinstanzen: Landgericht Stuttgart – Urteil vom 18. Oktober 2021 – 18 O 58/21 Oberlandesgericht Stuttgart – Urteil vom 1. Februar 2023 – 23 U 4323/21

Juni 2023

Das neue BGH-Urteil zum Dieselskandal wird eine Klagewelle auslösen! 
Das aktuelle BGH-Urteil vom 26.06.2023 stärkt erneut die Rechte der Verbraucher:  Die Richter haben die Hürden für Schadensersatzklagen von Dieselkäufern in Deutschland deutlich herabgesenkt.


Köln/Duisburg, 29. Juni 2023 - So viel ist klar: Es ist ein Urteil mit Signalwirkung! Diesel-Fahrzeugbesitzer können nun grundsätzlich Schadensersatzansprüche gegenüber den Autoherstellern geltend machen,  wenn es sich bei den Fahrzeugen mit Thermofenstern um illegale Einrichtungen zur Abschaltung der Abgasreinigung handelt. Dies entschied nun der Bundesgerichtshof, welcher somit der Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs im März folgte.

Die Höhe des Schadensersatzes wird sich zwischen fünf und 15 Prozent des Kaufpreises bewegen, welcher auch ohne ein Gutachten zugesprochen werden soll. Betroffen sind alle Diesel-Fahrzeuge, bei denen unzulässige Abschalteinrichtungen verbaut worden sind. Unter anderem sind Autos des Volkswagen-Konzerns, Mercedes-Benz, Audi, Fiat, BMW oder Opel betroffen. 

Die Kanzlei Mingers. Rechtsanwälte prüft kostenfrei die Betroffenheit der Fahrzeughalter. Interessierte können sich unter office@mingers.law melden, oder über das Formular mit Mingers. Rechtsanwälte in Kontakt treten. Weitere wissenswerte Tipps zu alltäglichen Rechtsfragen oder weitere Informationen zum Diesel-Abgasskandal gibt es übrigens auch in dem 5-Sterne Ratgeber  "Ich hab aber Recht!" von Markus Mingers.


Bundesgerichtshof entscheidet zum Differenzschaden in "Dieselverfahren" nach dem Urteil des EuGH vom 21. März 2023 (C-100/21)
Kaarlsruhe, 26. Juni 2023 - Der vom Präsidium des Bundesgerichtshofs vorübergehend als Hilfsspruchkörper eingerichtete VIa. Zivilsenat (vgl. Pressemitteilung Nr. 141/2021 vom 22. Juli 2021) hat am 26. Juni 2023 im Anschluss an die Entscheidung des Gerichtshofs der Europäischen Union (EuGH) vom 21. März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) entschieden, unter welchen Voraussetzungen Käufer von Dieselfahrzeugen in "Dieselverfahren" den Ersatz eines Differenzschadens vom Fahrzeughersteller verlangen können.

Sachverhalte und bisheriger Prozessverlauf
In dem Verfahren VIa ZR 335/21 verlangt der Kläger von der beklagten Volkswagen AG Schadensersatz wegen eines von ihr hergestellten VW Passat Alltrack 2.0 l TDI, der mit einem Motor der Baureihe EA 288 ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Der Kläger erwarb das im Juli 2016 erstmals zugelassene Fahrzeug am 15. November 2017 von einem Händler. Die Abgasrückführung erfolgt bei dem Fahrzeug in Abhängigkeit von der Temperatur (Thermofenster). Ferner ist eine Fahrkurvenerkennung installiert.

Der Kläger verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betreffenden Kaufvertrag und einen Finanzierungsvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Gegen die Zurückweisung der Berufung richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers.

In dem Verfahren VIa ZR 533/21 kaufte der Kläger im Mai 2018 von einem Vertragshändler der beklagten Audi AG einen Audi SQ5 Allroad 3.0 TDI, der mit einem Motor der Baureihe EA 896Gen2BiT ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Das Kraftfahrt-Bundesamt (KBA) hatte bereits vor Abschluss des Kaufvertrags bei einer Überprüfung des auch in das Fahrzeug des Klägers eingebauten Motors eine unzulässige Abschalteinrichtung in Form einer sogenannten Aufheizstrategie festgestellt und durch Bescheid vom 1. Dezember 2017 nachträgliche Nebenbestimmungen für die der Beklagten erteilte EG-Typgenehmigung angeordnet.

Der Kläger verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn im Wege des Schadensersatzes so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betreffenden Kaufvertrag mit dem Vertragshändler und einen Finanzierungsvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Berufungsgericht hat die dagegen gerichtete Berufung des Klägers zurückgewiesen. Gegen die Zurückweisung der Berufung richtet sich die vom Berufungsgericht zugelassene Revision des Klägers, mit der er seine zweitinstanzlichen Anträge weiterverfolgt.


In dem Verfahren VIa ZR 1031/22 kaufte der Kläger im Oktober 2017 von der beklagten Mercedes-Benz Group AG einen Mercedes-Benz C 220 d, der mit einem Motor der Baureihe OM 651 ausgerüstet ist. Die EG-Typgenehmigung wurde für die Schadstoffklasse Euro 6 erteilt. Die Abgasrückführung erfolgt bei dem Fahrzeug unter anderem temperaturgesteuert und wird beim Unterschreiten einer Schwellentemperatur reduziert. Weiter verfügt das Fahrzeug über eine Kühlmittel-Solltemperatur-Regelung, bei der die verzögerte Erwärmung des Motoröls zu niedrigeren NOx-Emissionen führt.

Der Kläger verlangt von der Beklagten im Wesentlichen, ihn so zu stellen, als habe er den das Fahrzeug betreffenden Kaufvertrag und einen Finanzierungsvertrag nicht abgeschlossen. Das Landgericht hat der Klage unter dem Gesichtspunkt einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung des Klägers überwiegend stattgegeben. Auf die Berufung der Beklagten hat das Berufungsgericht die auf das Recht der unerlaubten Handlung gestützte Klage und darüber hinaus das auf kaufrechtliche Ansprüche gestützte Begehren des Klägers abgewiesen.

Mit der vom Berufungsgericht unter Verweis auf die Frage, ob die EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung ein Schutzgesetz im Sinne von § 823 Abs. 2 BGB sei, zugelassenen Revision möchte der Kläger, der nur noch deliktische Ansprüche geltend macht, die Wiederherstellung des erstinstanzlichen Urteils erreichen.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs

Der Bundesgerichtshof hat auf die Revisionen der Kläger die Berufungsurteile in allen drei Verfahren – in der Sache VIa ZR 1031/22 allerdings nicht bezogen auf Ansprüche aus Kaufrecht, die nicht mehr Gegenstand des Revisionsverfahrens waren - aufgehoben und die Sachen zur neuen Verhandlung und Entscheidung an die Berufungsgerichte zurückverwiesen, damit die Berufungsgerichte eine Haftung der beklagten Fahrzeughersteller aus unerlaubter Handlung weiter aufklären.

Dabei hat der Bundesgerichtshof im Verfahren VIa ZR 335/21 bestätigt, dass die Tatbestandswirkung der EG-Typgenehmigung einem Anspruch aus §§ 826, 31 BGB gegen den Fahrzeughersteller nicht entgegengehalten werden kann. Im Verfahren VIa ZR 533/21 hat er die höchstrichterliche Rechtsprechung zu den Voraussetzungen einer haftungsausschließenden Verhaltensänderung des Fahrzeugherstellers bekräftigt.

Außerdem hat er – ausführlich begründet im Verfahren VIa ZR 335/21 – für eine Haftung der Fahrzeughersteller nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV auf Ersatz des Differenzschadens im Anschluss an das Urteil des EuGH vom 21. März 2023 (C-100/21, NJW 2023, 1111) folgende Grundsätze aufgestellt:
Der EuGH hat in seinem Urteil vom 21. März 2023 aus dem Gesamtzusammenhang des unionsrechtlichen Regelungsgefüges gefolgert, dass der Käufer beim Erwerb eines Kraftfahrzeugs, das zur Serie eines genehmigten Typs gehört und mit einer Übereinstimmungsbescheinigung versehen ist, vernünftigerweise erwarten kann, dass die Verordnung (EG) Nr. 715/2007 und insbesondere deren Art. 5 eingehalten ist.


Wird er in diesem Vertrauen enttäuscht, kann er von dem Fahrzeughersteller, der die Übereinstimmungsbescheinigung ausgegeben hat, Schadensersatz nach Maßgabe des nationalen Rechts verlangen. Zu gewähren ist allerdings, wenn der Fahrzeughersteller den Käufer nicht sittenwidrig vorsätzlich geschädigt hat, in Übereinstimmung mit der bisherigen höchstrichterlichen Rechtsprechung, die zu ändern der Bundesgerichtshof keine Veranlassung hat, nicht großer Schadensersatz.

Der Käufer kann auf der Grundlage der § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV im Falle der Enttäuschung seines auf die Richtigkeit der Übereinstimmungsbescheinigung gestützten Vertrauens – anders als bei einer sittenwidrigen vorsätzlichen Schädigung durch den Fahrzeughersteller und auf der Grundlage der §§ 826, 31 BGB – nicht verlangen, dass der Fahrzeughersteller das Fahrzeug übernimmt und den Kaufpreis abzüglich vom Käufer erlangter Vorteile erstattet.


Ein solcher Anspruch, der im Kern nicht den Vermögensschaden, sondern die freie Willensentschließung des Käufers schützt, kommt nur bei einem im Sinne von §§ 826, 31 BGB arglistigen Verhalten des Fahrzeugherstellers in Betracht. Für § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV bleibt es bei dem allgemeinen Grundsatz, dass ein Schadensersatzanspruch nach dem maßgeblichen nationalen Recht eine Vermögensminderung durch die enttäuschte Vertrauensinvestition bei Abschluss des Kaufvertrags über das Kraftfahrzeug voraussetzt.

Da der EuGH bei der Ausgestaltung des Schadensersatzanspruchs auf das nationale Recht verwiesen hat, konnte der Bundesgerichtshof auf die allgemeinen Grundsätze des deutschen Schadensrechts zurückgreifen, die auch bei einem fahrlässigen Verstoß gegen das europäische Abgasrecht einen effektiven und verhältnismäßigen Schadensersatzanspruch gewähren. Dabei hatte der Bundesgerichtshof davon auszugehen, dass die jederzeitige Verfügbarkeit eines Kraftfahrzeugs Geldwert hat. Deshalb erleidet der Käufer eines Fahrzeugs, das mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung im Sinne des Unionsrechts versehen ist, stets einen Schaden, weil aufgrund einer drohenden Betriebsbeschränkung oder Betriebsuntersagung die Verfügbarkeit des Fahrzeugs in Frage steht.

Zugunsten des Käufers greift der Erfahrungssatz, dass er im Falle der Ausstattung des Fahrzeugs mit einer unzulässigen Abschalteinrichtung das Fahrzeug nicht zu dem vereinbarten Preis gekauft hätte. Das Vorhandensein der Abschalteinrichtung im Sinne des Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 als solcher muss im Prozess der Käufer darlegen und beweisen, während die ausnahmsweise Zulässigkeit einer festgestellten Abschalteinrichtung aufgrund des Regel-Ausnahme-Verhältnisses in Art. 5 Abs. 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen muss.

Stellt der Tatrichter das Vorhandensein einer unzulässigen Abschalteinrichtung fest, muss der Fahrzeughersteller darlegen und beweisen, dass er bei der Ausgabe der Übereinstimmungsbescheinigung weder vorsätzlich gehandelt noch fahrlässig verkannt hat, dass das Kraftfahrzeug den unionsrechtlichen Vorgaben nicht entspricht. Beruft sich der Fahrzeughersteller zu seiner Entlastung auf einen unvermeidbaren Verbotsirrtum, gelten dafür die in der höchstrichterlichen Rechtsprechung allgemein entwickelten Grundsätze. Kann sich der Fahrzeughersteller von jedem Verschulden entlasten, haftet er nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV nicht.

Das deutsche Recht der unerlaubten Handlung setzt für eine deliktische Haftung des Schädigers stets ein Verschulden voraus. Eine verschuldensunabhängige deliktische Haftung können deutsche Gerichte, die auch nach den Vorgaben des EuGH im Rahmen des geltenden nationalen Rechts zu entscheiden haben, nicht anordnen. Der dem Käufer zu gewährende Schadensersatz muss nach den Vorgaben des EuGH einerseits eine effektive Sanktion für die Verletzung des Unionsrechts durch den Fahrzeughersteller darstellen. Andererseits muss der zu gewährende Schadensersatz – so die zweite Vorgabe des EuGH – den Grundsatz der Verhältnismäßigkeit wahren.

Dem einzelnen Käufer ist daher stets und ohne, dass das Vorhandensein eines Schadens als solches mittels eines Sachverständigengutachtens zu klären wäre oder durch ein Sachverständigengutachten in Frage gestellt werden könnte, ein Schadensersatz in Höhe von wenigstens 5% und höchstens 15% des gezahlten Kaufpreises zu gewähren. Innerhalb dieser Bandbreite obliegt die genaue Festlegung dem Tatrichter, der sein Schätzungsermessen ausüben kann, ohne sich vorher sachverständig beraten lassen zu müssen. Auf den vom Tatrichter geschätzten Betrag muss sich der Käufer Vorteile nach Maßgabe der Grundsätze anrechnen lassen, die der Bundesgerichtshof für die Vorteilsausgleichung auf der Grundlage der Gewähr kleinen Schadensersatzes nach §§ 826, 31 BGB entwickelt hat.

Die Kläger werden in allen Verfahren Gelegenheit haben, ihre Anträge anzupassen, soweit sie einen Differenzschaden nach diesen Maßgaben geltend machen wollen. Die Parteien haben nach einer Zurückverweisung der Sachen Gelegenheit, zu den Voraussetzungen einer Haftung nach § 823 Abs. 2 BGB in Verbindung mit § 6 Abs. 1, § 27 Abs. 1 EG-FGV ergänzend vorzutragen.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: Bürgerliches Gesetzbuch: § 826 Sittenwidrige vorsätzliche Schädigung Wer in einer gegen die guten Sitten verstoßenden Weise einem anderen vorsätzlich Schaden zufügt, ist dem anderen zum Ersatz des Schadens verpflichtet. § 823 Schadensersatzpflicht (1) Wer vorsätzlich oder fahrlässig das Leben, den Körper, die Gesundheit, die Freiheit, das Eigentum oder ein sonstiges Recht eines anderen widerrechtlich verletzt, ist dem anderen zum Ersatz des daraus entstehenden Schadens verpflichtet.

(2) Die gleiche Verpflichtung trifft denjenigen, welcher gegen ein den Schutz eines anderen bezweckendes Gesetz verstößt. Ist nach dem Inhalt des Gesetzes ein Verstoß gegen dieses auch ohne Verschulden möglich, so tritt die Ersatzpflicht nur im Falle des Verschuldens ein. Artikel 5 Abs. 1 und 2 der Verordnung (EG) Nr. 715/2007 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 20. Juni 2007 über die Typgenehmigung von Kraftfahrzeugen hinsichtlich der Emissionen von leichten Personenkraftwagen und Nutzfahrzeugen (Euro 5 und Euro 6) (1)

Der Hersteller rüstet das Fahrzeug so aus, dass die Bauteile, die das Emissionsverhalten voraussichtlich beeinflussen, so konstruiert, gefertigt und montiert sind, dass das Fahrzeug unter normalen Betriebsbedingungen dieser Verordnung und ihren Durchführungsmaßnahmen entspricht. (2) Die Verwendung von Abschalteinrichtungen, die die Wirkung von Emissionskontrollsystemen verringern, ist unzulässig.

Dies ist nicht der Fall, wenn: a)die Einrichtung notwendig ist, um den Motor vor Beschädigung oder Unfall zu schützen und um den sicheren Betrieb des Fahrzeugs zu gewährleisten; b)die Einrichtung nicht länger arbeitet, als zum Anlassen des Motors erforderlich ist; c)die Bedingungen in den Verfahren zur Prüfung der Verdunstungsemissionen und der durchschnittlichen Auspuffemissionen im Wesentlichen enthalten sind. § 6 Abs. 1 Satz 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung

Für jedes dem genehmigten Typ entsprechende Fahrzeug hat der Inhaber der EG-Typgenehmigung eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Artikel 18 in Verbindung mit Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG auszustellen und dem Fahrzeug beizufügen. § 27 Abs. 1 Satz 1 EG-Fahrzeuggenehmigungsverordnung (1) Neue Fahrzeuge, selbstständige technische Einheiten oder Bauteile, für die eine Übereinstimmungsbescheinigung nach Anhang IX der Richtlinie 2007/46/EG, nach Anhang IV der Richtlinie 2002/24/EG oder nach Anhang III der Richtlinie 2003/37/EG vorgeschrieben ist, dürfen im Inland zur Verwendung im Straßenverkehr nur feilgeboten, veräußert oder in den Verkehr gebracht werden, wenn sie mit einer gültigen Übereinstimmungsbescheinigung versehen sind.

 

Tipps für den Alltag  Cabrio: Im Zweifelsfall beim Parken das Dach schließen
Coburg, 16. Juni 2023 -  Wer einen Diebstahl leichtfertig ermöglicht, riskiert Versicherungsschutz Coburg,  16.06.2022 Autofahren mit offenem Verdeck, für viele ist es gelebte Freiheit. Knapp 2,2 Millionen Cabrios sind auf Deutschlands Straßen unterwegs (KBA). Doch irgendwann endet jede Autofahrt und die Parkplatzsuche beginnt.


Damit der Zweisitzer nicht zur leichten Beute für Diebe wird, rät die HUK-COBURG Cabriofahrern darauf zu achten, wo sie parken: Knapp 2,2 Millionen Euro zahlt Deutschlands größter Autoversicherer jedes Jahr für gestohlene Cabrios bzw. für Diebstähle aus dem Cabrio. Letztlich entscheidet der Abstellplatz darüber, ob das Verdeck offen bleiben kann oder geschlossen werden sollte. Autobesitzer mit abschließbarer Einzelgarage können das Thema Verdeck getrost vergessen, wenn sie ihren Pkw dort parken.

Mehr Vorsicht ist bei Tiefgaragen geboten, die für viele Personen frei zugänglich sind. Hier gelten dieselben Regeln wie auf der Straße: Wer sein Cabrio abstellt, um schnell etwas zu besorgen, kann das Verdeck offen lassen. Wer aber mehrere Stunden parkt, sollte das Dach schließen. Gleiches gilt bei Fahrten in Länder, in denen besonders häufig Autos gestohlen werden wie zum Beispiel in Italien oder Polen. Fans offener Verdecke sollten keine Taschen, Handys oder Ähnliches im Auto liegen lassen. Fest ein- oder angebaute Teile wie z.B. die Bordelektronik oder Fahrzeugassistenz- oder Infotainmentsysteme sind über die Teilkasko-Versicherung mitversichert.

Macht ein Dieb dort lange Finger, stellt sich aber auch hier die Frage, wo und wie lange der Wagen geparkt wurde. Fazit: Cabriofahrer, die ihr Verdeck schließen, können in puncto Versicherungsschutz nie etwas falsch machen. Wer es offen lässt und leichtfertig einen Autodiebstahl ermöglicht, muss mit Konsequenzen rechnen. Es kann sein, dass die Teilkasko-Versicherung den Schaden nicht in vollem Umfang übernimmt. Es gibt auch pragmatischen Grund für ein geschlossenes Verdeck: Nach einem Regenguss Sitze und Teppichboden des Zweisitzers zu trocknen, macht deutlich weniger Spaß als eine Spritztour an schönen Sommertagen.


EU-Kommission legt Maßnahmenpaket zu der Reduktion von Straßenverkehrstoten bis 2050 und der Einführung eines digitalen Führerscheins vor.
Brüssel/Berlin, 5. Juni 2023 - Sogenanntes Road Safety Package enthält Vorschläge zur Modernisierung der Führerscheinrichtlinie. TÜV-Verband und DEKRA verfassen gemeinsame Stellungnahme.  ie EU-Kommission hat mit dem Road Safety Package Vorschläge zur Modernisierung der Führerscheinvorschriften vorgelegt. Mit den neuen Vorschriften will die Kommission dem Ziel „Null Straßenverkehrstote“ bis 2050 näher kommen. Außerdem sollen Autofahrer:innen besser auf emissionsfreie Fahrzeuge und auf das Fahren in der Stadt vorbereitet werden. Darüber hinaus plant die Kommission die Einführung eines EU-weit gültigen digitalen Führerscheins.

Die Pläne der EU-Kommission kommentiert Marc-Philipp Waschke, Referent Verkehrssicherheit, Fahrerlaubnis und Fahreignung beim TÜV-Verband: „Grundsätzlich begrüßen wir die Vorschläge der Kommission zur Überarbeitung der EU-Führerscheinrichtlinie, einschließlich der Einführung eines unionsweit gültigen digitalen Führerscheins sehr. Das Road Safety Package hat das Potenzial, die Zahl der Verkehrstoten in Europa endlich nachhaltig im Sinne der Vision Zero zu reduzieren. Bei jährlich mehr als 20.000 Menschen auf europäischen Straßen sollte das oberste Priorität sein.“

„Viele der Maßnahmen, die nun EU-weit eingeführt werden sollen, sind in Deutschland bereits Praxis. Die Maßnahmen haben sich in Deutschland bewährt und konnten das Fahranfängerrisiko In den letzten zehn Jahren senken. Beispielsweise durch das Begleitete Fahren mit 17, die Optimierungen der theoretischen und praktischen Fahrerlaubnisprüfung und die Ausbildung im kompetenten Umgang mit Fahrerassistenzsystemen in der Fahrerlaubnisprüfung. Wir unterstützen die EU-Kommission bei den Plänen für eine europaweite Einführung.“

Einführung eines digitalen Führerscheins
„Erstrebenswert ist auch die schnelle Einführung eines EU-weit gültigen digitalen Führerschein. Die Bürger:innen sollen in ihrem täglichen Leben von den Vorteilen der europäischen Gemeinschaft profitieren. Eine digitale Lösung muss aber robust und im Blick auf Datenschutz und Datensicherheit belastbar sein. Als TÜV-Verband arbeiten wir mit unseren Mitgliedern bereits an einer Möglichkeit, nach bestandener Prüfung einen digitalen Nachweis der Fahrberechtigung zu erstellen. Diese könnte bereits im Vorgriff des EU-weiten digitalen Führerscheins zeitnah umgesetzt werden.“

„Essenziell bleibt, dass die Fahrerlaubnisprüfung nicht dem Wettbewerb preisgegeben wird, um das hohe Qualitätsniveau auch in Zukunft zu sichern. Die EU-Kommission geht hier mit. Für die Akzeptanz und das Vertrauen in die Prüfung bestätigt die EU-Kommission ebenfalls den Trennungsgrundsatz Ausbildung und Prüfung. Das heißt auch in Zukunft, wer ausbildet, prüft nicht und wer prüft, bildet nicht aus. Für den Erhalt und die weitere Verbesserung der Verkehrssicherheit sind dies wichtige Punkte.“

Fahrerlaubnisprüfung nicht am Wohnort
Der neue Vorschlag der Kommission ermöglicht es, die Fahrerlaubnisprüfung innerhalb der EU nicht im Land seines Wohnortes abzulegen, wenn die dortige Amtssprache nicht beherrscht wird. In Zukunft könnte der Führerschein von dem Mitgliedstaat ausgestellt werden, dessen Staatsangehörigkeit der Bewerber besitzt, wenn die Prüfung im Land des ordentlichen Wohnsitzes nicht in einer der Amtssprachen des Landes angeboten wird, dessen Staatsangehörigkeit der Prüfling besitzt. Marc-Philipp Waschke sagt dazu:  „Wir sehen die Pläne der EU-Kommission kritisch, die Fahrerlaubnisprüfung innerhalb der EU nicht im Land seines Wohnortes ablegen zu müssen.

Nach Ansicht des TÜV-Verbands sollten Fahrerlaubnisbewerber die Praktische Prüfung grundsätzlich wohnortnah ablegen. Damit wird gewährleistet, dass die Bewerber:innen ihre Fahrkompetenzen insbesondere im Straßenverkehrsgeschehen ihres Lebensumfeldes unter Beachtung regionaler Besonderheiten in Infrastruktur und Verkehrsdichte nachweisen. Dort werden sie in aller Regel auch ausgebildet. Die neue Möglichkeit umgeht dieses Prinzip und kann das ohnehin hohe Fahranfängerrisiko steigern. Ein solches Verfahren wäre aus unserer Sicht nur bei gegenseitiger Anerkennung zwischen den betroffenen Mitgliedsstaaten durchführbar.“

Feedbackfahrten für ältere Fahrerlaubnisinhaber:innen
„Ältere Fahrzeugführer spielen als Unfallverursacher in der Unfallstatistik bisher nur eine untergeordnete Rolle. Daher ist die von der EU-Kommission vorgesehene generelle verpflichtende Überprüfung der Fahreignung im Alter – ohne Vorliegen konkreter Anhaltspunkte für Defizite zu Fahrkompetenz und Fahreignung – aus Sicht des TÜV-Verbandes nicht zwangsläufig erforderlich.“  

„Um die Teilhabe am gesellschaftlichen Leben zu gewährleisten, müssen ältere Menschen für eine sichere Teilnahme am Verkehrsgeschehen intensiv in Bezug auf ihre Leistungsfähigkeit hinsichtlich Fahrkompetenz und Fahreignung aufgeklärt werden. Gleichwohl muss der Blick auf die Entwicklung der Unfallzahlen gerichtet bleiben, denn in den Unfallstatistiken ist das Unfallgeschehen für Fahrzeugführer ab dem 75. Lebensjahr auffällig. Wir begrüßen und empfehlen daher, dass die EU-Mitgliedsstaaten für Fahrerlaubnisinhaber ab 75 Jahre geeignete Maßnahmen ergreifen und rechtliche Rahmen schaffen, um regelmäßige Feedbackfahrten anbieten zu können. Im Rahmen dieser Feedbackfahrten würden Experten die Fahrkompetenz der Senioren feststellen und notwendige Potenziale zur Wiederherstellung der Fahrfähigkeiten zurückmelden – im Bedarfsfall würde auch eine Rückmeldung zur individuellen Fahreignung erfolgen.“

Europäische Sorgfaltspflichtengesetz
+++ Auf EU-Ebene sollen mehr Unternehmen als im deutschen Gesetz in die Pflicht genommen und auch ökologische Sorgfaltspflichten berücksichtigt werden
+++ Unabhängige Prüfungen stärken Umsetzung
Berlin, 01. Juni 2023 – Zur heutigen Abstimmung des EU-Parlaments über das EU-Sorgfaltspflichtengesetz (Corporate Sustainability Due Diligence Directive) sagt Juliane Petrich, Referentin Politik und Nachhaltigkeit des TÜV-Verbands: „Das EU-Sorgfaltspflichtengesetz kann ein echter Game-Changer werden, um Ungerechtigkeiten in den globalen Wertschöpfungsketten zu reduzieren, Menschenrechte in den Produktionsländern zu stärken und die Umwelt- und Klimakrise einzudämmen.

Auf EU-Ebene sollen mehr Unternehmen als im deutschen Gesetz in die Pflicht genommen und auch ökologische Sorgfaltspflichten berücksichtigt werden. Das sorgt für einheitliche Wettbewerbsbedingungen und schützt diejenigen Unternehmen, die schon heute hohe soziale und ökologische Standards einhalten.“ Unabhängige Prüfungen stärken Umsetzung Für eine erfolgreiche Umsetzung des EU-Sorgfaltspflichtengesetzes ist es wichtig, nicht nur umfassende Anforderungen festzulegen, sondern auch sicherzustellen, dass diese Anforderungen tatsächlich eingehalten werden.

„Wir begrüßen nachdrücklich, dass der Vorschlag unabhängigen Dritten, die die Einhaltung der Sorgfaltspflichten entlang der Wertschöpfungskette überprüfen, eine wichtige Rolle zuweist. Zertifizierungen und Vor-Ort-Audits durch unabhängige Konformitätsbewertungsstellen sind wichtige Instrumente, um die Einhaltung von Sozial- und Umweltstandards zu gewährleisten und für das notwendige Vertrauen in die Aussagen der einzelnen Glieder der Wertschöpfungskette zu sorgen. Das hilft den Unternehmen und schafft Transparenz für Verbraucherinnen und Verbraucher. Immer mehr Menschen wollen wissen, woher die von ihnen gekauften Produkte stammen und unter welchen sozialen und ökologischen Bedingungen sie hergestellt wurden“, sagt Petrich.

Mit der heutigen Abstimmung ist der Weg für die gemeinsamen Verhandlungen mit dem EU-Ministerrat (Trilogverhandlungen) jetzt frei. Die beiden Co-Gesetzgeber sollten sich nun um ein schnelles Verfahren bemühen und keine Verwässerungen zulassen, um am Ende ein Sorgfaltspflichtengesetz auf den Weg zu bringen, das Menschen, Umwelt und Klima auch wirklich schützt.

Das Gesetz zum Hinweisgeberschutz (HinSchG)
Das Gesetz wurde wurde am 2. Juni im Bundesgesetzblatt verkündet und tritt somit am 2. Juli 2023 in Kraft. Das lange Hin und Her hat ein Ende: Das Hinweisgeberschutzgesetz (HinSchG) tritt am 2. Juli 2023 in Kraft. Mitte Mai wurde das Gesetz vom Bundesrat verabschiedet, zuvor hatte es den Bundestag passiert. Nach etlichen Anläufen im Gesetzgebungsverfahren hat man sich mit rund eineinhalb Jahren Verspätung für den Kompromissvorschlag des Vermittlungsausschusses entschieden.

Das HinSchG ist das nationale Umsetzungsgesetz der EU-Richtlinie zum Schutz hinweisgebender Personen, die Verstöße im beruflichen Kontext bei einer hierfür vorgesehenen internen oder externen Meldestelle melden. Wer Missstände oder Regelverstöße in Unternehmen oder Behörden angibt, wird künftig besser vor Repressalien und beruflichen Nachteilen wie Mobbing und Diskriminierung gesichert. Der umfassende Schutz von Whistleblowern soll für mehr Integrität in Wirtschaft und öffentlichem Sektor sorgen. 

Wer ist betroffen und was ist zu tun?  Für Unternehmen ab 250 Beschäftigten und Kommunen ab 10.000 Einwohnern gilt die Pflicht mit Inkrafttreten des Gesetzes, sie müssen interne Hinweisgebersysteme einrichten. Unternehmen ab 50 Beschäftigten haben bis Mitte Dezember 2023 etwas mehr Zeit für die Umsetzung.  Die Einrichtung eines internen Meldekanals zur Aufdeckung von Verstößen wird verpflichtend.  Bei Nichteinrichtung und Fehlern in der Umsetzung drohen hohe Bußgelder bis zu 50.000 Euro. 

Nun gibt es zahlreiche offene Fragen rund um den Hinweisgeberschutz:  Wie schaffen Wirtschaft und Verwaltung diese Herausforderung, kurzfristig ein sicheres Hinweisgebersystem zu implementieren?  Wie sieht ein leicht zugänglicher, datenschutzkonformer Meldekanal aus, über den Mitarbeiter oder andere Interessengruppen die Regelverstöße einbringen?  Wie gelingt es, die Hinweise gesetzeskonform von nachweislich fachkundigem Personal zu bearbeiten und wie können Ombudspersonen helfen? Wo sind die Stolperfallen – und wo liegen die Chancen?

 

 

Sonn- und Feiertagsöffnung von öffentlichen Bibliotheken zur Nutzung ihrer kulturellen Funktionen an Ort und Stelle rechtmäßig - Aktenzeichen: 4 D 94/20.NE


Münster, 1. Juni 2023 - Das Oberverwaltungsgericht hat mit heute verkündetem Urteil entschieden, dass die durch Landesverordnung vorgesehene Sonn- und Feiertagsöffnung von öffentlichen Bibliotheken rechtmäßig und damit wirksam ist. Ein hiergegen gerichteter Normenkontrollantrag der Dienstleistungsgewerkschaft ver.di hatte keinen Erfolg.

Nach dem Arbeitszeitgesetz kann die Landesregierung Ausnahmen von dem Verbot einer Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen zur Vermeidung erheblicher Schäden unter Berücksichtigung des Schutzes der Arbeitnehmer und der Sonn- und Feiertagsruhe für Betriebe zulassen, in denen eine solche Beschäftigung zur Befriedigung täglicher oder an diesen Tagen besonders hervortretender Bedürfnisse der Bevölkerung erforderlich ist. § 1 Abs. 1 Nr. 11 Bedarfsgewerbeverordnung erlaubt die Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen in öffentlichen Bibliotheken, soweit sie ihre Funktionen nach § 47 und § 48 Absätze 4 bis 6 des Kulturgesetzbuchs NRW vom 1.12.2021 erfüllen.

Die Einführung dieser Verordnungsbestimmung war damit begründet worden, dass öffentliche Bibliotheken als sog. Dritte Orte der Begegnung dienten, der Kommunikation, der gesellschaftlichen Integration, der Information, der (staatsbürgerlichen) Bildung, als Stätten der Familie sowie als kulturelle Veranstaltungsorte. Sie böten zu diesen Zwecken Menschen aus unterschiedlichen sozialen Kontexten auch im ländlichen Raum und in kleinen Städten einen zentralen, besonders niederschwellig zugänglichen, nichtkommerziellen Raum für nichtkonsumtive Freizeitgestaltung.

All diese Nutzungsbedürfnisse vor Ort könnten an Sonntagen nur durch eine Öffnung der Bibliotheken erfüllt werden. Insofern könne eine Sonntagsarbeit von Bibliotheksmitarbeitern durch zumutbare planerische Vorkehrungen der Bevölkerung nicht vermieden werden. Der Entwurf, mit dem die Sonntagsöffnung von Bibliotheken erstmals eingeführt werden sollte, war aus der Mitte des Parlaments in den Landtag NRW eingebracht und dort einstimmig angenommen worden.

Die antragstellende Gewerkschaft hatte im Jahr 2020 gegen die ursprünglich eingefügte Fassung von § 1 Abs. 1 Nr. 11 Bedarfsgewerbeverordnung den hiesigen Normenkontrollantrag gestellt und die im Jahr 2021 geänderte Fassung kürzlich auf einen entsprechenden Hinweis des Gerichts in das Verfahren einbezogen. Zur Begründung ihres Normenkontrollantrags führte die Antragstellerin aus, das Bundesverwaltungsgericht habe mit seinem Urteil vom 26.11.2014 - 6 CN 1.13 - zur hessischen Bedarfsgewerbeverordnung bereits entscheiden, dass die Voraussetzungen für eine sonnund feiertägliche Öffnung öffentlicher Bibliotheken grundsätzlich nicht vorlägen, weil Nutzer die in Bibliotheken vorgehaltenen Medien an Werktagen für das Wochenende ausleihen könnten.

Die angegriffene nordrhein-westfälische Regelung sei nicht anders zu bewerten, nur weil ihr Anwendungsbereich auf bestimmte Funktionen öffentlicher Bibliotheken beschränkt sei. Der 4. Senat des Oberverwaltungsgerichts ist dieser Argumentation nicht gefolgt und hat zur Begründung seiner Entscheidung im Wesentlichen ausgeführt: Nach Einschätzung des zuständigen Landesgesetzgebers und den auf dieser Grundlage schlüssigen und vertretbaren Annahmen des Verordnungsgebers besteht angesichts der gewandelten kulturellen Funktionen öffentlicher Bibliotheken als niederschwellig zugängliche, nichtkommerzielle Orte der Kultur jedenfalls in Nordrhein-Westfalen an Sonn- und Feiertagen ein Bedürfnis für die Nutzung derartiger Bibliotheksräume an Ort und Stelle, welches eine Beschäftigung von Arbeitnehmern in solchen öffentlichen Bibliotheken an diesen Tagen als erforderlich erscheinen lässt.

Die im ursprünglichen Gesetzgebungsverfahren befragten Sachverständigen – mit Ausnahme der Antragstellerin – waren einhellig der Auffassung, dass gerade die Sonn- und Feiertagsöffnungen der öffentlichen Bibliotheken, die ihre gesetzlich in § 47 und § 48 Absätze 4 bis 6 des Kulturgesetzbuchs NRW beschriebenen kulturellen Funktionen erfüllen, für die (gemeinsame) Nutzung an Ort und Stelle einen erheblichen Besucherstrom aus verschiedensten gesellschaftlichen Gruppen anziehen.

Dabei waren auch Erfahrungen mit sonntags geöffneten Bibliotheken ausgewertet worden. Diese Einschätzung des Verordnungsgebers ist schlüssig und vertretbar, weil der Kreis der von der angegriffenen Regelung erfassten öffentlichen Bibliotheken gerade auf solche Bibliotheken beschränkt ist, die die beschriebenen Funktionen in einem so nennenswerten Umfang anbieten, dass wegen der deswegen dort möglichen Erfüllung des zu erwartenden Nutzungsbedürfnisses an Ort und Stelle eine Öffnung an Sonnund Feiertagen gerechtfertigt erscheint.

Die Einschätzung des Verordnungsgebers über die Erforderlichkeit der Beschäftigung von Arbeitnehmern an Sonn- und Feiertagen ist gerichtlich nur eingeschränkt auf ihre Schlüssigkeit und Vertretbarkeit überprüfbar; insbesondere darf das Gericht keine eigene Einschätzung vornehmen. Der Senat hat die Revision zum Bundesverwaltungsgericht wegen grundsätzlicher Bedeutung der Rechtssache im Hinblick auf die Frage zugelassen, ob für die nachträgliche Einbeziehung einer inhaltlich unteilbar geänderten Fassung einer Norm in ein Normenkontrollverfahren die einjährige Antragsfrist des § 47 Abs. 2 Satz 1 VwGO zu beachten ist.

Aktenzeichen: 4 D 94/20.NE

Weitere Informationen: § 1 Bedarfsgewerbeverordnung NRW (1) Abweichend von § 9 Arbeitszeitgesetz dürfen Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer an Sonn- und Feiertagen in den folgenden Bereichen beschäftigt werden, soweit die Arbeiten für den Betrieb unerläßlich sind und nicht an Werktagen durchgeführt werden können: […] 11. in öffentlichen Bibliotheken, soweit sie ihre Funktionen nach § 47 und § 48 Absätze 4 bis 6 des Kulturgesetzbuches vom 1. Dezember 2021 (GV. NRW. S. 1353) in der jeweils geltenden Fassung erfüllen, bis zu 6 Stunden.

§ 47 Kulturgesetzbuch NRW (Aufgaben der Bibliotheken)
(1) Bibliotheken sind zur Benutzung bestimmte und erschlossene Sammlungen von Büchern sowie anderen Medien- und Informationsangeboten, auch digitaler Art. Sie tragen in besonderer Weise zur Verwirklichung des Grundrechts aus Artikel 5 Absatz 1 Satz 1 des Grundgesetzes bei, sich aus allgemein zugänglichen Quellen ungehindert unterrichten zu können.

(2) Als Bildungs- und Informationseinrichtungen unterstützen Bibliotheken das selbstbestimmte lebensbegleitende Lernen, die Leseförderung sowie die Vermittlung von Medien- und Informationskompetenz

(3) Als Kultureinrichtungen stellen sie Räume für Begegnungen, Kommunikation, Integration und Kreativität zur Verfügung, gestalten diese aktiv und bieten ein vielfältiges Programm an. Sie haben auch die Funktion eines Dritten Orts im Sinne von § 14 Absatz 4 Satz 1. (4) Als Gedächtnisinstitutionen pflegen, bewahren und erschließen Bibliotheken wertvolle Altbestände und Sammlungen und machen sie der Öffentlichkeit in analoger oder digitaler Form zugänglich. § 48 Kulturgesetzbuch NRW (Öffentliche Bibliotheken) […]

(4) Öffentliche Bibliotheken leisten durch ein fachlich kuratiertes Informationsangebot einen wichtigen Beitrag zur Sicherung der Informationsfreiheit. Daher sind sie bei der Auswahl ihrer Medien unabhängig und an Weisungen nicht gebunden.

(5) Öffentliche Bibliotheken sind unter Beachtung des Hausrechts und im Rahmen der Benutzungsregelungen ihrer Träger frei zugänglich. Sie ermöglichen Nutzerinnen und Nutzern einen niedrigschwelligen und ungehinderten Zugang zu Informationen und tragen so wesentlich zur Vermittlung von allgemeiner, interkultureller und staatsbürgerlicher Bildung bei. Zudem ermöglichen und unterstützen sie die demokratische Willensbildung und gleichberechtigte Teilhabe sowie die gesellschaftliche Integration. Das Land unterstützt die Öffentlichen Bibliotheken bei der nutzerfreundlichen Ausweitung der Öffnungszeiten.

(6) Als Orte der Begegnung, der Kommunikation, des kulturellen Austausches und der gesellschaftlichen Integration können Bibliotheken zentrale Orte der Kultur und der außerschulischen Bildung sein und dazu beitragen, kulturelle Aktivitäten in der Region zu bündeln und zugänglich zu machen

 

 

Mai 2023

Sechswöchige Betriebsuntersagung für Frisörgeschäfte im Frühjahr 2020 ("erster Lockdown") verhältnismäßig – keine verfassungsrechtliche Verpflichtung des Staates zur Regelung von Ausgleichsansprüchen III ZR 41/22


Karsruhe. 11. Mai 2023 - Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat heute über die Frage entschieden, ob der Staat für Einnahmeausfälle haftet, die durch die vorübergehende landesweite Schließung von Frisörbetrieben im Frühjahr 2020 im Rahmen der Bekämpfung des SARS-CoV-2-Virus entstanden sind ("erster Lockdown").

Sachverhalt: Die Klägerin ist selbständig tätig und betreibt einen Frisörsalon in gemieteten Räumlichkeiten. Durch Verordnungen vom 17. und 20. März 2020 untersagte das beklagte Land Baden-Württemberg vorübergehend den Betrieb zahlreicher Einrichtungen. Dazu gehörten auch Frisörgeschäfte. Der Betrieb der Klägerin war in dem Zeitraum vom 23. März bis zum 4. Mai 2020 geschlossen, ohne dass die COVID-19-Krankheit zuvor dort aufgetreten war. Die Klägerin war auch nicht ansteckungsverdächtig.


Aus dem Soforthilfeprogramm des beklagten Landes erhielt sie 9.000 €, die sie allerdings zurückzahlen muss. Die Klägerin hat geltend gemacht, das beklagte Land schulde ihr eine Entschädigung in Höhe von 8.000 € für die mit der Betriebsschließung verbundenen erheblichen finanziellen Einbußen (Verdienstausfall, Betriebsausgaben). Die Maßnahme sei zum Schutz der Allgemeinheit nicht erforderlich gewesen.


Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Die Berufung der Klägerin ist vor dem Oberlandesgericht erfolglos geblieben. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der III. Zivilsenat hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Er hat seine Rechtsprechung (Urteil vom 17. März 2022- III ZR 79/21, BGHZ 233, 107) bestätigt, wonach Gewerbetreibenden, die im Rahmen der Bekämpfung der COVID-19-Pandemie als infektionsschutzrechtliche Nichtstörer durch eine flächendeckende, rechtmäßig angeordnete Schutzmaßnahme, insbesondere eine Betriebsschließung oder Betriebsbeschränkung, wirtschaftliche Einbußen erlitten haben, weder nach den Vorschriften des Infektionsschutzgesetzes noch nach dem allgemeinen Polizei- und Ordnungsrecht oder kraft Richterrechts Entschädigungsansprüche zustehen.

Die sechswöchige Betriebsuntersagung für Frisöre war auch unter Berücksichtigung der aus Art. 12 Abs. 1 GG folgenden Berufsfreiheit und des von Art. 14 Abs. 1 GG geschützten Rechts am eingerichteten und ausgeübten Gewerbebetrieb verhältnismäßig. Die landesrechtlichen Regelungen, die Betriebsschließungen anordneten, verfolgten das Ziel, die Gesundheit der Bevölkerung zu schützen und die durch die Corona-Pandemie hervorgerufenen Gefahren, insbesondere auch die der Überlastung des Gesundheitssystems, zu bekämpfen.

Damit erfüllte der Staat seine Schutzpflicht für Leben und Gesundheit der Bürger und verfolgte mithin einen legitimen Zweck. Das Gewicht des Eingriffs in die vorgenannten Grundrechtspositionen wurde durch die verschiedenen und umfangreichen staatlichen Hilfsmaßnahmen für die von der Betriebsuntersagung betroffenen Unternehmen entscheidend relativiert. Allein die "Soforthilfe Corona", die ab dem 25. März 2020 zur Verfügung stand, und für Betriebe mit bis zu fünf Beschäftigen bis zu 9.000 € betragen konnte, führte in Baden-Württemberg zu 245.000 Bewilligungen mit einem Gesamtvolumen von 2,1 Milliarden Euro.

Der Verordnungsgeber hatte zudem von Anfang an eine "Ausstiegs-Strategie" im Blick und verfolgte ein schrittweises Öffnungskonzept. Der Umstand, dass die infektionsschutzrechtlichen Betriebsuntersagungen aus dem ersten Lockdown im Frühjahr 2020 nach dem geltenden Recht (§ 32 i.V.m. § 28 Abs. 1 Satz 1 und 2, §§ 56, 65 IfSG) keine Schadensersatz- oder Entschädigungsansprüche begründen, ist auch im Hinblick auf Art. 14 Abs. 1 GG ebenfalls nicht zu beanstanden.

Der Gesetzgeber war verfassungsrechtlich nicht verpflichtet, für Belastungen, wie sie für die Klägerin mit der in den Betriebsuntersagungen liegenden Inhalts- und Schrankenbestimmung im Sinne des Art. 14 Abs. 1 Satz 2 GG einhergingen, Ausgleichsansprüche zu regeln. Eine Betriebsschließung von sechs Wochen war angesichts der gesamten wirtschaftlichen, sozialen und sonstigen Auswirkungen der Pandemie und unter Berücksichtigung des grundsätzlich von der Klägerin zu tragenden Unternehmerrisikos nicht unzumutbar.

Die finanzielle Leistungsfähigkeit des Staates ist begrenzt. Dementsprechend muss der Staat in Pandemiezeiten sich gegebenenfalls auf seine Kardinalpflichten zum Schutz der Bevölkerung beschränken.

Vorinstanzen: Landgericht Heilbronn - Urteil vom 17. Dezember 2020 – I 4 O 83/20 Oberlandesgericht Stuttgart - Urteil vom 9. Februar 2022 – 4 U 28/21


Die maßgeblichen Vorschriften lauten: Art. 12 GG – Berufsfreiheit (1)
1 Alle Deutschen haben das Recht, Beruf, Arbeitsplatz und Ausbildungsstätte frei zu wählen.
2 Die Berufsausübung kann durch Gesetz oder auf Grund eines Gesetzes geregelt werden. Art. 14 GG – Eigentum, Erbrecht und Enteignung 1 Das Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet.

2 Inhalt und Schranken werden durch die Gesetze bestimmt. § 28 IfSG - Schutzmaßnahmen (1) 1 Werden Kranke, Krankheitsverdächtige, Ansteckungsverdächtige oder Ausscheider festgestellt oder ergibt sich, dass ein Verstorbener krank, krankheitsverdächtig oder Ausscheider war, so trifft die zuständige Behörde die notwendigen Schutzmaßnahmen, insbesondere die in den §§ 28a, 28b und 29 bis 31 genannten, soweit und solange es zur Verhinderung der Verbreitung übertragbarer Krankheiten erforderlich ist; sie kann insbesondere Personen verpflichten, den Ort, an dem sie sich befinden, nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu verlassen oder von ihr bestimmte Orte oder öffentliche Orte nicht oder nur unter bestimmten Bedingungen zu betreten.

2 Unter den Voraussetzungen von Satz 1 kann die zuständige Behörde Veranstaltungen oder sonstige Ansammlungen von Menschen beschränken oder verbieten und Badeanstalten oder in § 33 genannte Gemeinschaftseinrichtungen oder Teile davon schließen. § 32 IfSG – Erlass von Rechtsverordnungen 1 Die Landesregierungen werden ermächtigt, unter den Voraussetzungen, die für Maßnahmen nach den §§ 28 bis 28b und 29 bis 31 maßgebend sind, auch durch Rechtsverordnungen entsprechende Gebote und Verbote zur Bekämpfung übertragbarer Krankheiten zu erlassen.

2 Die Landesregierungen können die Ermächtigung durch Rechtsverordnung auf andere Stellen übertragen. § 56 IfSG – Entschädigung (1) 1 Wer auf Grund dieses Gesetzes als Ausscheider, Ansteckungsverdächtiger, Krankheitsverdächtiger oder als sonstiger Träger von Krankheitserregern im Sinne von § 31 Satz 2 Verboten in der Ausübung seiner bisherigen Erwerbstätigkeit unterliegt oder unterworfen wird und dadurch einen Verdienstausfall erleidet, erhält eine Entschädigung in Geld. § 65 IfSG – Entschädigung bei behördlichen Maßnahmen (1)


1 Soweit auf Grund einer Maßnahme nach den §§ 16 und 17 Gegenstände vernichtet, beschädigt oder in sonstiger Weise in ihrem Wert gemindert werden oder ein anderer nicht nur unwesentlicher Vermögensnachteil verursacht wird, ist eine Entschädigung in Geld zu leisten; eine Entschädigung erhält jedoch nicht derjenige, dessen Gegenstände mit Krankheitserregern oder mit Gesundheitsschädlingen als vermutlichen Überträgern solcher Krankheitserreger behaftet oder dessen verdächtig sind. 2 § 254 des Bürgerlichen Gesetzbuchs ist entsprechend anzuwenden.


Bundesgerichtshof zur Endgerätewahlfreiheit bei einem Mobilfunkvertrag mit Internetnutzung


Karlsruhe, 4. Mai 2023 - III ZR 88/22 - Der für Rechtsstreitigkeiten über Dienstverhältnisse zuständige III. Zivilsenat hat entschieden, dass in einem Mobilfunkvertrag die Klausel in Allgemeinen Geschäftsbedingungen eines Telekommunikationsunternehmens unwirksam ist, mit der der Gebrauch des Internetzugangs auf Endgeräte beschränkt wird, die eine mobile Nutzung unabhängig von einem permanenten kabelgebundenen Stromanschluss ermöglichen. Sachverhalt: Der Kläger ist in die Liste qualifizierter Einrichtungen nach § 4 UKlaG eingetragen.

Das beklagte Telekommunikationsunternehmen verwendet in seinen Allgemeinen Geschäftsbedingungen für Mobilfunkverträge mit Internetnutzung u.a. die folgende Bestimmung: "Der mobile Internetzugang kann/darf nur mit Smartphones, Tablets oder sonstigen Geräten genutzt werden, die eine mobile Nutzung unabhängig von einem permanenten kabelgebundenen Stromanschluss ermöglichen (nicht z.B. in stationären LTE-Routern)."

Der Kläger nimmt die Beklagte darauf in Anspruch, es zu unterlassen, in Bezug auf Telekommunikationsverträge mit Verbrauchern diese oder eine inhaltsgleiche Klausel zu verwenden. Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat der Klage stattgegeben. Das Oberlandesgericht hat die hiergegen gerichtete Berufung der Beklagten zurückgewiesen. Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der III. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die vom Berufungsgericht zugelassene Revision der Beklagten zurückgewiesen.

Die von der Beklagten verwendete Klausel hält einer Inhaltskontrolle nicht stand. Sie verstößt gegen die in Art. 3 Abs. 1 der Verordnung (EU) 2015/2120 des Europäischen Parlaments und des Rates vom 25. November 2015 über Maßnahmen zum Zugang zum offenen Internet und zur Änderung der Richtlinie 2002/22/EG über den Universaldienst und Nutzerrechte bei elektronischen Kommunikationsnetzen und -diensten sowie der Verordnung (EU) Nr. 531/2012 über das Roaming in öffentlichen Mobilfunknetzen in der Union normierte Endgerätewahlfreiheit und ist daher gemäß § 307 Abs. 1, Abs. 2 Nr. 1 BGB unwirksam.

Die gemäß Art. 288 Abs. 2 AEUV in allen ihren Teilen verbindliche und in jedem Mitgliedstaat unmittelbar geltende Verordnung (EU) 2015/2120 bestimmt in ihrem Art. 3 Abs. 1, dass Endnutzer eines Internetzugangsdienstes das Recht haben, den Internetzugang mit Endgeräten ihrer Wahl zu nutzen. Der Umfang dieser Endgerätewahlfreiheit richtet sich nicht danach, ob dem Internetzugangsdienst ein Mobilfunkvertrag, ein Festnetzvertrag oder ein anderer Vertragstyp zugrunde liegt. Anknüpfungspunkt für die Endgerätewahlfreiheit ist der Internetzugangsdienst und damit unabhängig von der verwendeten Netztechnologie und den verwendeten Endgeräten der durch den Dienst bereitgestellte Zugang zum Internet.

Bei der Nutzung dieses Zugangs kann der Endnutzer grundsätzlich frei unter den zur Verfügung stehenden Endgeräten wählen. Die Endgerätewahlfreiheit kann nicht wirksam abbedungen werden. Eine Regelung im Sinne der von der Beklagten verwendeten Klausel, die die Nutzung bestimmter Endgeräte ausschließt, obwohl sie technisch zur Herstellung einer Internetverbindung über das Mobilfunknetz geeignet sind, ist daher unwirksam.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 307 Abs. 1 und 2 BGB (1) Bestimmungen in Allgemeinen Geschäftsbedingungen sind unwirksam, wenn sie den Vertragspartner des Verwenders entgegen den Geboten von Treu und Glauben unangemessen benachteiligen. Eine unangemessene Benachteiligung kann sich auch daraus ergeben, dass die Bestimmung nicht klar und verständlich ist.


(2) Eine unangemessene Benachteiligung ist im Zweifel anzunehmen, wenn eine Bestimmung 1. mit wesentlichen Grundgedanken der gesetzlichen Regelung, von der abgewichen wird, nicht zu vereinbaren ist oder 2. wesentliche Rechte oder Pflichten, die sich aus der Natur des Vertrags ergeben, so einschränkt, dass die Erreichung des Vertragszwecks gefährdet ist. Art. 3 Abs. 1 Satz 1 VO (EU) 2015/2120

Endnutzer haben das Recht, über ihren Internetzugangsdienst, unabhängig vom Standort des Endnutzers oder des Anbieters und unabhängig von Standort, Ursprung oder Bestimmungsort der Informationen, Inhalte, Anwendungen oder Dienste, Informationen und Inhalte abzurufen und zu verbreiten, Anwendungen und Dienste zu nutzen und bereitzustellen und Endgeräte ihrer Wahl zu nutzen.

Vorinstanzen: LG München I - Urteil vom 28. Januar 2021 - 12 O 6343/20 OLG München - Urteil vom 17. Februar 2022 - 29 U 747/21

April 2023

Unfall oder Diebstahl – Pedelec richtig versichern
Wer braucht ein Versicherungskennzeichen? Hausratversicherung mit Zusatzbaustein
Coburg,  26.04.2023 - Vorbei die Zeiten, in denen allein Kondition entschied, wer mit wem Radfahren geht. Dem Pedelec sei Dank: Heute können Trainierte und Untrainierte ganz entspannt miteinander radeln. Wer nicht allein mit Muskelkraft fährt, sollte aber im Hinterkopf haben, dass es oft schwerfällt, ein normales Rad von der motorunterstützten Variante zu unterscheiden. Wenn Geschwindigkeiten falsch eingeschätzt werden, ist ein Unfall schnell passiert. Dann ist der richtige Versicherungsschutz wichtig.

Welche Variante die richtige ist, hängt von der Geschwindigkeit des jeweiligen Modells ab. Beim Großteil der Pedelecs handelt es sich um Räder mit elektrischer Tretunterstützung, die sich ab 25 Stundenkilometern abschaltet. Wie die HUK-COBURG mitteilt, sind diese Pedelecs den Fahrrädern gleichgestellt. Sie lassen sich ohne Zulassung, Führerschein und Versicherungskennzeichen fahren. Das Unfallrisiko ist oft – aber nicht immer – in einer bestehenden Privathaftpflicht-Versicherung kostenlos miteingeschlossen.

Ein Blick in die Bedingungen oder ein Gespräch mit dem Versicherer klärt, ob die kostenfreie Mitversicherung wirklich besteht. Andere Spielregeln gelten für Fahrer:innen schneller S-Pedelecs, deren Motorunterstützung erst bei 45 Kilometern pro Stunde endet. Wer sich auf den Sattel eines S-Pedelecs setzt, muss mindestens 16 Jahre alt sein, einen Führerschein der Klasse AM und eine Kfz-Haftpflichtversicherung besitzen, das dafür notwendige Versicherungskennzeichen gibt es direkt bei der Kfz-Versicherung. Diebstahl nicht ausgeschlossen Genau wie ihre allein mit Muskelkraft betriebenen Pendants, die Fahrräder, werden auch S-Pedelecs gerne gestohlen.

Um dagegen versichert zu sein, brauchen die S-Pedelec-Fahrer:innen neben der Kfz-Haftpflichtversicherung noch eine Teilkasko-Versicherung. Doch auch für Fahrer:innen der langsameren Varianten ist Diebstahlschutz ein Thema: Verschwinden solche Pedelecs nach einem Einbruch in den verschlossenen Keller oder die Einzelgarage, ist das in der Hausratversicherung kostenlos mitversichert. Anders sieht es beim einfachen Diebstahl aus: Wenn also ein abgeschlossenes Pedelec von der Straße weggestohlen wird. Hier kann in der Regel nur der auf seinen Hausratversicherer zählen, der den Zusatzbaustein Fahrraddiebstahl in seinen Vertrag miteingeschlossen hat.

Bis zu welcher Summe die Versicherung im Schadenfall leistet, hat jeder selbst in der Hand. Dieser Schutz greift im Allgemeinen nicht nur 24 Stunden am Tag, sondern im Rahmen der Außenversicherung auch weltweit und er bezieht alle, fest mit dem Fahrrad verbundenen Teile, wie beispielsweise Sattel oder Räder, mit ein. Lose verbundenes Zubehör, wie Anstecklampe oder Fahrradkorb, ist normalerweise nur mitversichert, wenn es zusammen mit dem Pedelec gestohlen wird. Allerdings können solche Regelungen von Versicherer zu Versicherer variieren. An dieser Stelle bringt ein Gespräch mit dem eigenen Hausratversicherer Sicherheit.

Organstreitverfahren und abstrakte Normenkontrollen im Zusammenhang mit dem NRW-Landeshaushalt eingegangen
Münster, 5. April 2023 - Am 5. April 2023 sind beim Verfassungsgerichtshof in Münster ein Organstreitverfahren sowie zwei Verfahren zur abstrakten Normenkontrolle im Zusammenhang mit dem nordrhein-westfälischen Landeshaushalt eingegangen.


Das von den Fraktionen der Sozialdemokratischen Partei Deutschlands (SPD) und der Freien Demokratischen Partei (FDP) im Landtag Nordrhein-Westfalen gegen das Ministerium der Finanzen des Landes Nordrhein-Westfalen und die Landesregierung des Landes Nordrhein-Westfalen eingeleitete Organstreitverfahren richtet sich dagegen, dass der Landesfinanzminister auf der Grundlage des im März 2020 errichteten "Sondervermögens zur Finanzierung aller direkten und indirekten Folgen der Bewältigung der Corona-Krise" (NRW-Rettungsschirmgesetz) im Oktober und November 2022 Kredite aufgenommen hat.

Die Antragsteller sehen dadurch das Budgetrecht des Landtags aus Art. 81 und 83 der Landesverfassung verletzt. Darüber hinaus wenden sich die Mitglieder der Landtagsfraktionen der SPD und der FDP im Wege der abstrakten Normenkontrolle zum einen gegen die Errichtung des "Sondervermögens zur Bewältigung der Krisensituation in Folge des russischen Angriffskrieges in der Ukraine" (NRW-Krisenbewältigungsgesetz) und zum anderen gegen die Kreditermächtigung im "Gesetz über die Feststellung des Haushaltsplans des Landes Nordrhein-Westfalen für das Haushaltsjahr 2023" (Haushaltsgesetz 2023).

Sie machen eine Verletzung des Budgetrechts des Landtags bzw. einen Verstoß gegen die im Grundgesetz verankerte "Schuldenbremse" geltend.

VerfGH 32/23, VerfGH 33/23, VerfGH 34/23

Befugnis des Insolvenzverwalters zur Löschung eines Wohnungsrechts des Insolvenzschuldners am eigenen Grundstück

Karlsruhe, 5. April 2023 - BundesgerichtshofBeschluss vom 2. März 2023 – V ZB 64/21 Der unter anderem für Rechtsbeschwerden in Grundbuchsachen zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass ein Wohnungsrecht, das am eigenen Grundstück besteht, stets pfändbar ist und bei Insolvenz des wohnungsberechtigen Grundstückseigentümers von dem Insolvenzverwalter gelöscht werden kann.


Sachverhalt: Der Beteiligte zu 1 war eingetragener Eigentümer eines bebauten Grundstücks. An dem Grundstück bestellte er sich selbst ein auf das Gebäude bezogenes Wohnungsrecht mit der Bestimmung, dass die Ausübung des Wohnungsrechts dritten Personen nicht überlassen werden könne, und brachte das Grundstück in eine Gesellschaft bürgerlichen Rechts (GbR) als Einlage ein. Die GbR wurde als Eigentümerin in das Grundbuch eingetragen, ebenso erfolgte die Eintragung des Wohnungsrechts.

Über das Vermögen des Beteiligten zu 1 wurde einige Monate später das Insolvenzverfahren eröffnet; der Beteiligte zu 4 wurde zum Insolvenzverwalter bestellt. Dieser nahm im Wege der Insolvenzanfechtung die GbR erfolgreich auf Rückgewähr in Anspruch und erklärte die Auflassung des Grundbesitzes an den Beteiligten zu 1. Er bewilligte und beantragte zudem die Löschung des Wohnungsrechts. Daraufhin wurde der Beteiligte zu 1 wieder als Eigentümer in das Grundbuch eingetragen; das Wohnungsrecht wurde gelöscht.

Gegen die Löschung des Wohnungsrechts hat der Beteiligte zu 1 Beschwerde eingelegt mit dem Ziel der Eintragung eines Amtswiderspruchs. Das Kammergericht hat die Beschwerde zurückgewiesen. Hiergegen wendet sich der Beteiligte zu 1 mit der zugelassenen Rechtsbeschwerde. Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Rechtsbeschwerde des Beteiligten zu 1 zurückgewiesen.

Dem liegen folgende Erwägungen zugrunde: Das Beschwerdegericht lehnt es zu Recht ab, das Grundbuchamt zur Eintragung eines Widerspruchs gegen die Löschung des Wohnungsrechts anzuweisen, weil durch die Löschung des Wohnungsrechts keine gesetzlichen Vorschriften verletzt worden sind. Der Beteiligte zu 4 war als Insolvenzverwalter befugt, die Löschung des Wohnungsrechts zu bewilligen.

Mit der Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht die Verfügungsbefugnis über die Insolvenzmasse auf den Insolvenzverwalter über. Dem Insolvenzschuldner wird, soweit die Insolvenzmasse betroffen ist, auch die Bewilligungsbefugnis entzogen; sie wird durch den Insolvenzverwalter ausgeübt. Die Bewilligungsbefugnis des Insolvenzverwalters umfasst dagegen nicht das Vermögen, das nicht der Zwangsvollstreckung unterliegt (§ 36 Abs. 1 Satz 1 InsO).

Grundsätzlich gehören beschränkte persönliche Dienstbarkeiten und damit auch das Wohnungsrecht (§ 1093 BGB) als Sonderfall der beschränkten persönlichen Dienstbarkeit allerdings nicht zur Insolvenzmasse, weil sie gemäß § 1092 Abs. 1 Satz 1 BGB nicht übertragbar und deshalb nicht pfändbar sind (§ 851 Abs. 1, § 857 Abs. 1 ZPO). Etwas anderes gilt gemäß § 857 Abs. 3 ZPO dann, wenn die Überlassung der Ausübung an einen anderen nach § 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB gestattet ist. Daran fehlt es hier.

Gleichwohl ist das Wohnungsrecht des Beteiligten zu 1 pfändbar und fällt in die Insolvenzmasse, weil der Beteiligte zu 1 das Eigentum an dem Grundstück zurückerlangt hat und das Wohnungsrecht dadurch zum Eigentümerwohnungsrecht geworden ist. Der V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat bereits 1964 entschieden, dass eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit dann pfändbar ist, wenn der Eigentümer des Grundstücks und der Berechtigte personenidentisch sind. Er hält an dieser Ansicht, die auch für das Wohnungsrecht gilt, fest.

Das Gesetz geht in den §§ 1090 ff. BGB davon aus, dass die beschränkte persönliche Dienstbarkeit an einem fremden Grundstück besteht, Eigentümer und Berechtigter also personenverschieden sind. Für das Wohnungsrecht kommt das in § 1093 Abs. 1 Satz 1 BGB zum Ausdruck. Nach dieser Vorschrift berechtigt das Wohnungsrecht zu einer Nutzung der umfassten Räume durch den Wohnungsberechtigten "unter Ausschluss des Eigentümers". Zwar erlaubt der Bundesgerichtshof die Bestellung einer beschränkten persönlichen Dienstbarkeit und damit auch die Bestellung eines Wohnungsrechts am eigenen Grundstück.

Das hat seinen Grund darin, dass dafür im Zusammenhang mit der Vertragsgestaltung, insbesondere bei der Veräußerung des Grundstücks, ein praktisches Bedürfnis bestehen kann, ändert aber nichts daran, dass nach dem gesetzlichen Leitbild Grundstückseigentümer und Berechtigter personenverschieden sind. Dieses gesetzliche Leitbild liegt gerade auch der Vorschrift der § 1092 Abs. 1 BGB zugrunde, die zum Ausschluss der Pfändbarkeit führen kann. Auf ein Eigentümerwohnungsrecht kann sich der Ausschluss der Pfändbarkeit nach Sinn und Zweck der Vorschrift nicht erstrecken.


Die Vorschrift des § 1092 Abs. 1 BGB dient dem Schutz des Eigentümers. Sie trägt dem persönlichen Vertrauensverhältnis zwischen Eigentümer und Berechtigtem Rechnung und schließt es aus, dass der Berechtigte ohne Mitwirkung des Eigentümers ausgetauscht werden kann. Das zeigt, dass der Ausschluss der Pfändbarkeit ein Fremdrecht voraussetzt. Für die beschränkte persönliche Dienstbarkeit und insbesondere das Wohnungsrecht an eigenen Grundstücken ist § 1092 Abs. 1 BGB deshalb teleologisch einzuschränken.

Der Berechtigte, der zugleich Eigentümer ist, muss sich so behandeln lassen, als habe er es gemäß § 1092 Abs. 1 Satz 2 BGB gestattet, die Ausübung einem anderen zu überlassen. Infolgedessen ist ein Eigentümerwohnungsrecht stets – und damit auch hier –pfändbar. Hierfür spielt es keine Rolle, ob das Wohnungsrecht von Anfang an als Eigentümerwohnungsrecht bestellt wird oder ob es nachträglich zu einer Vereinigung von Wohnungsrecht und Eigentum in einer Person kommt.


Aufgrund der Pfändbarkeit fällt das Eigentümerwohnungsrecht bei Insolvenz des wohnungsberechtigten Grundstückseigentümers in die Insolvenzmasse und ist von dem Insolvenzverwalter zu verwerten. Der Insolvenzverwalter ist befugt, im Rahmen der Verwertung die Löschung des Wohnungsrechts zu bewilligen, etwa um das Grundstück lastenfrei veräußern zu können.


Vorinstanzen: Kammergericht – Beschluss vom 7. Oktober 2021 – 1 W 342/21 Amtsgericht Charlottenburg – Grundbuchamt – Beschluss vom 9. September 2021 – 40 BG-2329 Die maßgeblichen Vorschriften lauten:
§ 1092 BGB Unübertragbarkeit; Überlassung der Ausübung (1) Eine beschränkte persönliche Dienstbarkeit ist nicht übertragbar. Die Ausübung der Dienstbarkeit kann einem anderen nur überlassen werden, wenn die Überlassung gestattet ist. (…) § 1093 BGB Wohnungsrecht (1) Als beschränkte persönliche Dienstbarkeit kann auch das Recht bestellt werden, ein Gebäude oder einen Teil eines Gebäudes unter Ausschluss des Eigentümers als Wohnung zu benutzen. (…) (…)
§ 19 GBO [Bewilligungsgrundsatz] Eine Eintragung erfolgt, wenn derjenige sie bewilligt, dessen Recht von ihr betroffen wird. § 53 GBO [Widerspruch und Löschung von Amts wegen] (1) Ergibt sich, daß das Grundbuchamt unter Verletzung gesetzlicher Vorschriften eine Eintragung vorgenommen hat, durch die das Grundbuch unrichtig geworden ist, so ist von Amts wegen ein Widerspruch einzutragen. (…) (…)
§ 851 ZPO Nicht übertragbare Forderungen (1) Eine Forderung ist in Ermangelung besonderer Vorschriften der Pfändung nur insoweit unterworfen, als sie übertragbar ist. (…)
§ 857 ZPO Zwangsvollstreckung in andere Vermögensrechte (1) Für die Zwangsvollstreckung in andere Vermögensrechte, die nicht Gegenstand der Zwangsvollstreckung in das unbewegliche Vermögen sind, gelten die vorstehenden Vorschriften entsprechend. (…) (3) Ein unveräußerliches Recht ist in Ermangelung besonderer Vorschriften der Pfändung insoweit unterworfen, als die Ausübung einem anderen überlassen werden kann. (…)
§ 35 InsO Begriff der Insolvenzmasse (1) Das Insolvenzverfahren erfaßt das gesamte Vermögen, das dem Schuldner zur Zeit der Eröffnung des Verfahrens gehört und das er während des Verfahrens erlangt (Insolvenzmasse). (…)
§ 36 InsO Unpfändbare Gegenstände (1) Gegenstände, die nicht der Zwangsvollstreckung unterliegen, gehören nicht zur Insolvenzmasse. (…) (…)
§ 80 InsO Übergang des Verwaltungs- und Verfügungsrechts (1) Durch die Eröffnung des Insolvenzverfahrens geht das Recht des Schuldners, das zur Insolvenzmasse gehörende Vermögen zu verwalten und über es zu verfügen, auf den Insolvenzverwalter über.

März 2023

Organstreitverfahren wegen Nichtvorlage von Akten an den "PUA II - Hochwasserkatastrophe" eingegangen

Münster, 31. März 2023 - Drei Mitglieder des Parlamentarischen Untersuchungsausschusses II der 18. Wahlperiode des Landtags Nordrhein-Westfalen ("PUA II – Hochwasserkatastrophe") haben am 29. März 2023 beim Verfassungsgerichtshof in Münster ein Organstreitverfahren gegen die Ministerin für Heimat, Kommunales, Bau und Digitalisierung (Ina Scharrenberg) des Landes Nordrhein-Westfalen eingeleitet.


Der "PUA II – Hochwasserkatastrophe" soll mögliche Versäumnisse, Fehleinschätzungen und mögliches Fehlverhalten der damaligen Landesregierung, insbesondere der zuständigen Ministerien sowie der ihnen nachgeordneten Behörden während der Hochwasserkatastrophe untersuchen, die sich Mitte Juli 2021 ereignet hatte.


Die Antragsteller begehren die Feststellung, dass die Antragsgegnerin dadurch gegen Art. 41 Abs. 1 Satz 2 und Abs. 2 Satz 3 der Landesverfassung verstoßen habe, dass sie dem "PUA II – Hochwasserkatastrophe" einen Teil der auf Grundlage des Beweisbeschlusses Nr. 13 vom 4. November 2022 angeforderten und in ihrem Geschäftsbereich geführten Akten nicht vorgelegt habe. VerfGH 31/23

 

Kinderehe
Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen mangels Regelungen zu den Folgen und zu Fortführungsmöglichkeiten nach inländischem Recht unwirksamer Auslandskinderehen mit dem Grundgesetz unvereinbar

Karlsruhe, 29. März 2023 -  Der Gesetzgeber ist grundsätzlich befugt, die inländische Wirksamkeit im Ausland wirksam geschlossener Ehen von einem Mindestalter der Beteiligten abhängig zu machen. Ihm ist es auch nicht von vornherein verwehrt, bei Unterschreiten dieses Alters im Zeitpunkt der Eheschließung ohne Einzelfallprüfung die Nichtigkeit der Ehe anzuordnen.

Allerdings bedarf es dann Regelungen über die Folgen der Unwirksamkeit, etwa über Unterhaltsansprüche, und über eine Möglichkeit, die betroffene Auslandsehe nach Erreichen der Volljährigkeit auch nach deutschem Recht als wirksame Ehe führen zu können.

Da das Gesetz zur Bekämpfung von Kinderehen derartige Regelungen nicht enthält, hat der Erste Senat des Bundesverfassungsgerichts mit heute veröffentlichtem Beschluss den im Rahmen eines Vorlageverfahrens zur Überprüfung gestellten Art. 13 Abs. 3 Nr. 1 EGBGB für mit der Ehefreiheit des Art. 6 Abs. 1 GG unvereinbar erklärt.

Die Vorschrift bleibt jedoch zunächst mit vom Gericht näher festgelegten Maßgaben zu Unterhaltsansprüchen in Kraft. Der Gesetzgeber hat bis längstens 30. Juni 2024 Zeit, eine in jeder Hinsicht verfassungsgemäße Regelung zu schaffen.

 

 

EU: „Recht auf Reparatur“

Brüssel, 22. März 2023 - Entsorgte Produkte sind häufig noch gebrauchsfähige Waren, die repariert werden können, aber oft vorzeitig weggeworfen werden. Dies verursacht jährlich 35 Millionen Tonnen Abfall. Dagegen will die EU-Kommission vorgehen. Mit einem Vorschlag zum „Recht auf Reparatur“ soll es für Verbraucherinnen und Verbrauchern künftig einfacher und kostengünstiger werden, Waren zu reparieren, statt sie ersetzen zu lassen.

Frans Timmermans, Exekutiv-Vizepräsident für den europäischen Grünen Deal, sagte: „Reparatur ist ein entscheidender Faktor, wenn es darum geht, das Modell der Wegwerfgesellschaft ad acta zu legen, das für unseren Planeten, unsere Gesundheit und unsere Wirtschaft so schädlich ist. Ein fehlerhaftes Kabel oder ein beschädigter Ventilator muss nicht bedeuten, dass man ein ganz neues Produkt kaufen muss. Im vergangenen Jahr haben wir Vorschriften vorgeschlagen, um sicherzustellen, dass Produkte grundsätzlich reparierbar sind. Heute schlagen wir vor, die Reparatur zu einer einfachen und attraktiven Option für die Verbraucherinnen und Verbraucher zu machen.“


Neue Maßnahmen zur Förderung und Erleichterung von Reparatur und Wiederverwendung

Der Vorschlag sieht ein „Recht auf Reparatur“ für Verbraucherinnen und Verbraucher sowohl innerhalb als auch außerhalb der gesetzlichen Garantie.

Im Rahmen der gesetzlichen Garantie werden Verkäufer Reparaturen anbieten müssen, es sei denn, diese sind teurer als der Ersatz.


Über die gesetzliche Garantie hinaus wird den Verbraucherinnen und Verbrauchern ein neues Paket von Rechten und Instrumenten zur Verfügung stehen, um eine Reparatur zu einer einfachen und verfügbaren Option zu machen:
Anspruch der Verbraucher/innen gegenüber Herstellern auf Reparatur von Produkten, die nach EU-Recht technisch reparierbar sind, wie Waschmaschinen oder Fernsehgeräte. Dadurch soll sichergestellt werden, dass sich Verbraucher/innen jederzeit an jemanden wenden können, wenn sie sich für eine Reparatur ihres Produkts entscheiden. Auch soll es die Hersteller dazu anregen, nachhaltigere Geschäftsmodelle zu entwickeln.

Verpflichtung der Hersteller zur Unterrichtung der Verbraucher/innen über die Produkte, die sie selbst reparieren müssen.


Eine Matchmaking-Reparaturplattform im Internet, um Verbraucherinnen und Verbrauchern die Kontaktaufnahme zu Reparaturbetrieben und Verkäufern instandgesetzter Waren in ihrer Region zu ermöglichen. Die Plattform soll die Suche nach Standorten und Qualitätsstandards ermöglichen, sie soll den Verbraucherinnen und Verbrauchern helfen, attraktive Angebote zu finden, und die Sichtbarkeit von Reparaturbetrieben erhöhen.


Ein europäisches Formular für Reparaturinformationen, das die Verbraucher/innen von jedem Reparaturbetrieb verlangen können. Das soll Transparenz in Bezug auf die Reparaturbedingungen und den Preis schaffen und den Verbraucherinnen und Verbrauchern der Vergleich von Reparaturangeboten erleichtern.

Ein europäischer Qualitätsstandard für Reparaturdienstleistungen wird entwickelt. Er soll den Verbraucherinnen und Verbrauchern dabei helfen, Reparaturbetriebe zu ermitteln, die sich zu einer höheren Qualität verpflichten. Dieser Standard für eine „einfache Reparatur“ steht allen Reparaturbetrieben in der gesamten EU offen. Sie müssen bereit sein, sich zu Mindestqualitätsstandards zu verpflichten, etwa in Bezug auf die Lebensdauer oder die Verfügbarkeit von Produkten.

 

Der Kommissionsvorschlag muss vom Europäischen Parlament und vom Rat angenommen werden.


Deutsche Umwelthilfe begrüßt Urteil des EuGH zu Abschalteinrichtungen bei Diesel-Pkw
21. März 2023 - Bestätigung der Illegalität von Temperaturabschaltungen der Abgasreinigung erfolgt in den von der Deutschen Umwelthilfe geführten Verfahren Europäischer Gerichtshof bestätigt: Durch illegale Abschalteinrichtungen betrogene Kunden können Anspruch auf Gewährleistung durch Automobilhersteller haben – von diesem Urteil sind bis zu 10 Millionen Besitzer von Diesel-Pkw betroffen Voraussetzung für die zivilrechtlichen Ansprüche ist nach der heutigen EuGH-Entscheidung, dass die Temperaturabschaltungen unzulässig waren.

Dies wird in den durch die Deutsche Umwelthilfe vor der Verwaltungsgerichtsbarkeit geführten Verfahren entschieden. Die Musterentscheidung des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 20. Februar 2023 bestätigt die Unzulässigkeit.

DUH-BGF Resch: „Das Kraftfahrtbundesamt und das zuständige Bundesverkehrsministerium haben viele Jahre die Profite der Dieselkonzerne über das Wohl der Menschen gestellt – das heutige Urteil verpflichtet das Kraftfahrtbundesamt, nun eine Hardwarenachrüstung oder alternativ Stilllegung der Fahrzeuge anzuordnen!“

Nur einen Monat nach dem Grundsatzurteil des Verwaltungsgerichts Schleswig vom 20. Februar 2023 folgt heute der nächste Paukenschlag in der um mehr als sieben Jahre verspäteten Dieselgate-Aufarbeitung. Der Europäische Gerichtshof hat die Hürden für eine Schadensersatzklage für bis zu 10 Millionen betroffene Dieselfahrer gegen die Autohersteller erheblich gesenkt (Aktenzeichen: C-100 / 21).

Während der Bundesgerichtshof (BGH) zuvor noch den Nachweis einer „vorsätzlichen sittenwidrigen Schädigung“ verlangte, ist jetzt nur noch der Nachweis einer fahrlässigen Pflichtverletzung notwendig. „Dieses Urteil ist ein großer Erfolg für den Verbraucherschutz. Entscheidend wird nun sein, dass die Unzulässigkeit der Abschalteinrichtungen abschließend gerichtlich festgestellt wird. Dazu sind bereits Verfahren zu über 100 Typgenehmigungen gegen das KBA anhängig.

Alles spricht dafür, dass diese abschließend so ausgehen, wie das Verwaltungsgericht Schleswig zuletzt in dem Musterfall entschieden hat. Die Zivilgerichte müssen diese verwaltungsgerichtlichen Weichenstellungen übernehmen“, so Rechtsanwalt Remo Klinger, der die Deutsche Umwelthilfe (DUH) in allen Dieselgate-Verfahren vertritt.

Das Kraftfahrtbundesamt (KBA) hatte diverse Betrugsdiesel durch Freigabebescheide nach einem Software-Update wieder auf die Straße gelassen. Die DUH hatte diesbezüglich geklagt und am 20. Februar 2023 in einem Musterverfahren an einem VW Golf mit dem Motor EA189 gewonnen: Der Freigabebescheid wurde aufgehoben, da nach wie vor unzulässige Abschalteinrichtungen vorhanden sind.

Insgesamt hat die DUH 119 Freigabebescheide für Betrugsdiesel verschiedener Hersteller beklagt. Mittelbar sind bis zu 10 Millionen Autos in Deutschland betroffen. DUH-Bundesgeschäftsführer Jürgen Resch kommentiert: „Das KBA und das zuständige Bundesverkehrsministerium haben viele Jahre die Profite der Dieselkonzerne über das Wohl der Menschen gestellt. Wir werden mit unseren weiteren Klageverfahren gegen das Kraftfahrtbundesamt sicherstellen, dass alle Betrugsdiesel entweder stillgelegt oder mit einer funktionierenden Abgasanlage nachgerüstet werden.“

Bundesgerichtshof bejaht "Beschlusszwang" für bauliche Veränderungen des Gemeinschaftseigentums nach neuem Wohnungseigentumsrecht Urteil vom 17. März 2023 - V ZR 140/22

Karlsruhe, 17. März 2023 - Der Bundesgerichtshof hat sich heute mit dem neuen Wohnungseigentumsrecht befasst und entschieden, dass ein Wohnungseigentümer, der eine in der Gemeinschaftsordnung nicht vorgesehene bauliche Veränderung vornehmen will, einen Gestattungsbeschluss notfalls im Wege der Beschlussersetzungsklage herbeiführen muss, ehe mit der Baumaßnahme begonnen wird.

Sachverhalt: Die Parteien bilden eine Wohnungseigentümergemeinschaft mit zwei Doppelhaushälften auf einem im Gemeinschaftseigentum stehenden Grundstück. Nach der Gemeinschaftsordnung von 1971 bestimmt sich das Verhältnis der Wohnungseigentümer untereinander nach dem Gesetz, wobei jedem Wohnungseigentümer ein Sondernutzungsrecht an dem an die jeweilige Haushälfte anschließenden Gartenteil zusteht. Ausweislich einer späteren Ergänzung der Teilungserklärung sind sie insoweit allein für Reparaturen und Instandhaltungen verantwortlich und kostenpflichtig.


Die Beklagten beabsichtigen gegen den Willen der Klägerin den Bau eines Swimmingpools in der von ihnen genutzten Hälfte des Gartens. Bisheriger Prozessverlauf: Nachdem die Beklagten mit dem Bau des Swimmingpools begonnen hatten, hat die Klägerin Unterlassungsklage erhoben, die bei Amts- und Landgericht Erfolg gehabt hat. Mit der von dem Landgericht zugelassenen Revision wollten die Beklagten weiterhin die Abweisung der Klage erreichen.


Die Entscheidung des Bundesgerichtshofs: Der unter anderem für das Wohnungseigentumsrecht zuständige V. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat die Revision zurückgewiesen. Das Landgericht hat der Unterlassungsklage zu Recht stattgegeben. Dabei ist es der Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs entsprechend davon ausgegangen, dass die Prozessführungsbefugnis der Klägerin fortbesteht, da die Klage noch unter dem alten Recht erhoben worden ist.

Im Ausgangspunkt steht der Klägerin ein Unterlassungsanspruch gemäß § 1004 Abs. 1 Satz 2 BGB zu. Bauliche Veränderungen müssen nämlich gemäß § 20 Abs. 1 WEG durch einen Beschluss der Wohnungseigentümer gestattet werden. Daran fehlt es hier. Die Wohnungseigentümer haben das Beschlusserfordernis auch nicht gemäß § 10 Abs. 1 Satz 2 WEG abbedungen. Dies ergibt sich insbesondere nicht aus der Gemeinschaftsordnung nebst Ergänzung.

Zwar steht den Beklagten ein Sondernutzungsrecht an dem hälftigen Grundstück zu. Ein solches Sondernutzungsrecht berechtigt aber nicht zu grundlegenden Umgestaltungen der jeweiligen Sondernutzungsfläche, die wie der Bau eines Swimmingpools über die übliche Nutzung hinausgehen. Hierbei handelt es sich auch nicht um eine Reparatur oder Instandsetzung.


Ebenso wenig bestehen Anhaltspunkte für eine konkludente, von dem grundsätzlichen Beschlusserfordernis bei baulichen Veränderungen abweichende Vereinbarung. Dies lässt sich insbesondere nicht etwaigen baulichen Veränderungen entnehmen, die die Klägerin selbst ohne das Einverständnis der Beklagten vorgenommen haben soll. Diesem Unterlassungsanspruch können die Beklagten einen eventuellen Anspruch auf Gestattung der baulichen Veränderung gemäß § 20 Abs. 3 WEG nicht nach Treu und Glauben (§ 242 BGB) entgegenhalten.

Zwar kann gemäß § 20 Abs. 3 WEG jeder Wohnungseigentümer verlangen, dass ihm eine bauliche Veränderung gestattet wird, wenn alle Wohnungseigentümer, deren Rechte durch die bauliche Veränderung über das bei einem geordneten Zusammenleben unvermeidliche Maß hinaus beeinträchtigt werden, einverstanden sind oder wenn kein anderer Wohnungseigentümer beeinträchtigt wird.

Die fehlende Beeinträchtigung der Klägerin und damit einen Gestattungsanspruch der Beklagten musste der Bundesgerichtshof für die Revisionsinstanz unterstellen, weil das Landgericht diese Frage offengelassen und keine Feststellungen insbesondere zu der Grundstücksgröße und den baulichen Verhältnissen vor Ort getroffen hatte. Auch wenn ein bestehender Gestattungsanspruch unterstellt wird, muss die Gestattung durch Beschluss der Wohnungseigentümer erfolgen.

Die vor Inkrafttreten des Wohnungseigentumsmodernisierungsgesetzes zum 1. Dezember 2020 umstrittene Frage, ob bauliche Veränderungen eines Beschlusses bedürfen, hat der Gesetzgeber in Kenntnis dieses Streits nunmehr eindeutig entschieden, um Auslegungsschwierigkeiten zu vermeiden und die vielfältigen Zweifelsfragen im Zusammenhang mit baulichen Veränderungen zu beseitigen. Danach bedarf jede von einem einzelnen Wohnungseigentümer beabsichtigte bauliche Veränderung des gemeinschaftlichen Eigentums eines legitimierenden Beschlusses, auch wenn kein Wohnungseigentümer in rechtlich relevanter Weise beeinträchtigt wird.

So wird sichergestellt, dass die Wohnungseigentümer über alle baulichen Veränderungen des Gemeinschaftseigentums informiert werden. Damit ist das Verfahren bei beabsichtigter baulicher Veränderung durch einen einzelnen Wohnungseigentümer vorgezeichnet. Es ist Sache des bauwilligen Wohnungseigentümers, einen Gestattungsbeschluss gegebenenfalls im Wege der Beschlussersetzungsklage (§ 44 Abs. 1 Satz 2 WEG) herbeizuführen, ehe mit der Baumaßnahme begonnen wird.

Handelt er dem zuwider, haben die übrigen Wohnungseigentümer einen Unterlassungsanspruch. Dass der bauwillige Wohnungseigentümer dem Unterlassungsanspruch seinen Gestattungsanspruch nicht unter Berufung auf Treu und Glauben entgegenhalten kann, ist keine bloße Förmelei. Es ist gerade Sache des bauwilligen Wohnungseigentümers, den gesetzlich geforderten Beschluss über die bauliche Veränderung herbeizuführen. Notfalls muss er Beschlussersetzungsklage erheben.

Demgegenüber sollen die übrigen Wohnungseigentümer nicht in die Rolle gedrängt werden, auf die Erhebung einer Klage durch die Gemeinschaft hinwirken zu müssen. Vorteil dieses nunmehr eindeutig geregelten Verfahrens ist außerdem, dass mit Bestandskraft eines gestattenden Beschlusses (bzw. Rechtskraft eines Urteils, das einen Gestattungsbeschluss ersetzt) zwischen den Wohnungseigentümern ebenso wie im Verhältnis zu deren Rechtsnachfolgern feststeht, dass die bauliche Veränderung zulässig ist.

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 20 WEG: Abs. 1: "Maßnahmen, die über die ordnungsmäßige Erhaltung des gemeinschaftlichen Eigentums hinausgehen (bauliche Veränderungen), können beschlossen oder einem Wohnungseigentümer durch Beschluss gestattet werden".

Abs. 2 (…) Abs. 3: "Unbeschadet des Absatzes 2 kann jeder Wohnungseigentümer verlangen, dass ihm eine bauliche Veränderung gestattet wird, wenn alle Wohnungseigentümer, deren Rechte durch die bauliche Veränderung über das bei einem geordneten Zusammenleben unvermeidliche Maß hinaus beeinträchtigt werden, einverstanden sind".


Eilantrag gegen die Auswahl der Abfertigungsdienstleister am Flughafen Düsseldorf abgelehnt
Münster, 3. März 2023 - Die Entscheidung vom 19. Dezember 2022, mit welcher das Verkehrsministerium des Landes Nordrhein-Westfalen drei Anbieter zur Erbringung von Bodenabfertigungsdiensten am Flughafen Düsseldorf für die Dauer von sieben Jahren beginnend ab dem 1. April 2023 ausgewählt hat, bleibt sofort vollziehbar.

Das hat das Oberverwaltungsgericht mit Beschluss vom 2. März 2023 entschieden.

Nach Ausschreibung der Konzessionen zur Erbringung von Bodenabfertigungsdiensten am Flughafen Düsseldorf hat das Verkehrsministerium mit seiner Auswahlentscheidung drei Anbieter ausgewählt. Dagegen hat ein unterlegener Mitbewerber, der bisher die Leistungen am dortigen Flughafen erbracht hat, Klage erhoben und im Hinblick auf die behördlich angeordnete sofortige Vollziehung der Auswahlentscheidung Eilrechtsschutz beantragt.

Diesen Eilantrag, mit dem das Unternehmen (Antragstellerin) erreichen wollte, vorläufig bis zur Entscheidung über die Klage weiterhin am Flughafen Düsseldorf tätig sein zu dürfen, hat das Oberverwaltungsgericht mit seinem Beschluss abgelehnt. Zur Begründung hat der - erstinstanzlich zuständige - 20. Senat im Wesentlichen ausgeführt: Die Erfolgsaussichten in der Hauptsache sind offen.

Die deshalb gebotene Abwägung der widerstreitenden Interessen fällt zulasten der Antragstellerin aus. Ein öffentliches Vollziehungsinteresse resultiert unter Berücksichtigung der großen verkehrlichen Bedeutung des Flughafens in hohem Maße aus dem öffentlichen Interesse an der Aufrechterhaltung seiner Betriebs- und Funktionsfähigkeit ab dem 1. April 2023, die rechtlich und tatsächlich durch die Vollziehbarkeit der Auswahlentscheidung gewährleistet wird.

Außerdem fällt insofern ins Gewicht, dass die sofortige Vollziehung der Auswahlentscheidung der vom Recht der Europäischen Union vorgesehenen Marktöffnung auf dem Gebiet der Bodenabfertigungsdienste Rechnung trägt. Gegenüber dem demnach erheblichen öffentlichen Vollziehungsinteresse sowie den Vollziehungsinteressen des Flughafenbetreibers und der ausgewählten Bewerber tritt das vordringlich wirtschaftlich begründete Interesse der Antragstellerin zurück, vorläufig weiterhin die Leistungen erbringen zu dürfen.

Der Beschluss ist unanfechtbar. Aktenzeichen: 20 B 71/23.AK

 

Januar 2023

Alkohol im Blut: Hände weg vom Steuer 
- Mitfahrt bei Betrunkenem kann Konsequenzen haben
- Promillegrenzen gelten auch beim Radfahren

Coburg/Duisburg im Januar 2023 - Nach zwei Jahren Pandemie können alle Narren und Jecken endlich wieder feiern. Die fünfte Jahreszeit hat begonnen und nähert sich langsam ihrem Höhepunkt. Für viele Narren gehört ein guter Schluck genauso zum Fasching wie die gute Laune. Doch schon geringe Alkoholmengen genügen, um die Reaktionsfähigkeit drastisch einzuschränken. Bei Fahrauffälligkeiten – wie dem Fahren von Schlangenlinien oder zu dichtem Auffahren – drohen bereits ab 0,3 Promille ein Fahrverbot, Punkte und ein Bußgeld.

Wer mit 0,5 Promille in eine Polizeikontrolle gerät, wird mit mindestens 500 Euro zur Kasse gebeten, darf sich mindestens einen Monat nicht ans Steuer setzen und kassiert zwei Punkte in Flensburg.  Sind Autofahrer:innen mit mehr als 1,1 Promille unterwegs, geht der Gesetzgeber automatisch von absoluter Fahruntüchtigkeit aus. Personen, die die Polizei so antrifft, müssen sich für mindestens sechs Monate von ihrem Führerschein verabschieden. Weitere Konsequenzen sind drei Punkte in Flensburg und eine Geldstrafe. Zudem wird bei solch einer Trunkenheitsfahrt der Führerschein entzogen. Seine Rückgabe muss bei der Straßenverkehrsbehörde beantragt werden. 

Alkohol im Blut: Hände weg vom Steuer Foto: HUK-Coburg

Fahranfänger:innen sollten berücksichtigen: Bis zum 21. Geburtstag beziehungsweise während der Probezeit ist Alkohol am Steuer tabu. Auch Radfahren und Alkohol passen nicht zusammen: Wer angetrunken einen Unfall verursacht, läuft ab 0,3 Promille ebenfalls Gefahr, seinen Führerschein verlieren. Ab 1,6 Promille müssen auch Radfahrer:innen mit einem Verfahren rechnen - unabhängig davon, ob sie einen Führerschein besitzen.

Nicht mit Versicherungsschutz spielen
Soweit die strafrechtliche Seite. War bei einem Unfall Alkohol im Spiel, kann sich das, wie die HUK-COBURG mitteilt, auch auf den Versicherungsschutz auswirken. Inwiefern hängt vom Blutalkoholspiegel und der individuellen Fahrtüchtigkeit ab. Also davon, ob Fahrer oder Fahrerin eine Situation erkannt und angemessen reagiert haben. Wer Schlangenlinien gefahren, von der Straße  Nach zwei Jahren Pandemie können alle Narren und Jecken endlich wieder feiern. Die fünfte Jahreszeit hat begonnen und nähert sich langsam ihrem Höhepunkt.

Für viele Narren gehört ein guter Schluck genauso zum Fasching wie die gute Laune. Doch schon geringe Alkoholmengen genügen, um die Reaktionsfähigkeit drastisch einzuschränken. Bei Fahrauffälligkeiten – wie dem Fahren von Schlangenlinien oder zu dichtem Auffahren – drohen bereits ab 0,3 Promille ein Fahrverbot, Punkte und ein Bußgeld. Wer mit 0,5 Promille in eine Polizeikontrolle gerät, wird mit mindestens 500 Euro zur Kasse gebeten, darf sich mindestens einen Monat nicht ans Steuer setzen und kassiert zwei Punkte in Flensburg. 

Sind Autofahrer:innen mit mehr als 1,1 Promille unterwegs, geht der Gesetzgeber automatisch von absoluter Fahruntüchtigkeit aus. Personen, die die Polizei so antrifft, müssen sich für mindestens sechs Monate von ihrem Führerschein verabschieden. Weitere Konsequenzen sind drei Punkte in Flensburg und eine Geldstrafe. Zudem wird bei solch einer Trunkenheitsfahrt der Führerschein entzogen. Seine Rückgabe muss bei der Straßenverkehrsbehörde beantragt werden.  Fahranfänger:innen sollten berücksichtigen: Bis zum 21. Geburtstag beziehungsweise während der Probezeit ist Alkohol am Steuer tabu.

Auch Radfahren und Alkohol passen nicht zusammen: Wer angetrunken einen Unfall verursacht, läuft ab 0,3 Promille ebenfalls Gefahr, seinen Führerschein verlieren. Ab 1,6 Promille müssen auch Radfahrer:innen mit einem Verfahren rechnen - unabhängig davon, ob sie einen Führerschein besitzen. Nicht mit Versicherungsschutz spielen Soweit die strafrechtliche Seite. War bei einem Unfall Alkohol im Spiel, kann sich das, wie die HUK-COBURG mitteilt, auch auf den Versicherungsschutz auswirken. Inwiefern hängt vom Blutalkoholspiegel und der individuellen Fahrtüchtigkeit ab. Also davon, ob Fahrer oder Fahrerin eine Situation erkannt und angemessen reagiert haben.

Wer Schlangenlinien gefahren, von der Straße abgekommen ist oder Autos gerammt hat, hat diese Grenze überschritten. Wie viel Alkohol zu Ausfallerscheinungen führt, ist bei jedem verschieden. Im Extremfall genügt ein Glas Sekt. Lässt sich der Unfall eindeutig auf Alkoholkonsum zurückführen, greift in der Kfz-Haftpflichtversicherung die Trunkenheitsklausel. Sie befreit den Versicherer von seiner Leistungspflicht. Das heißt: Die Versicherung reguliert den Schaden des Opfers, nimmt aber den Unfallverursacher in Regress.

Maximal 5.000 Euro kann sie sich vom Schädiger oder der Schädigerin zurückholen. In der Kasko-Versicherung kann sich der Versicherer auf Leistungsfreiheit berufen und nur einen Teil des Schadens oder gar nichts bezahlen. Bei 1,1 Promille gilt der Alkoholgenuss automatisch als unfallursächlich. Allerdings genügen auch geringere Mengen, um den Versicherungsschutz ins Wanken zu bringen. Die Gretchenfrage ist und bleibt, ob der Alkohol ursächlich für die Karambolage war. Beifahrer:innen mit in der Verantwortung Auch wer bei seinem alkoholisierten Trinkkumpan ins Auto steigt, muss bei einem Unfall mit Konsequenzen rechnen.

Werden Mitfahrende verletzt, können ihre Ansprüche gekürzt werden, die sie im Normalfall gegen den Verursacher gehabt hätten. Dies gilt zum Beispiel für das Schmerzensgeld. Die Rechtsprechung unterstellt hier, dass Mitfahrende, die sich zu einem Betrunkenen ins Auto setzen, sich selbst gefährden und die Verletzungsfolgen dadurch mit verursacht haben. Selbst am Morgen nach einer fröhlich durchzechten Nacht ist der Alkohol immer noch ein Thema. Schließlich dauert es um die zehn Stunden, bis ein Promille Alkohol im Körper abgebaut wird. Im Zweifelsfall empfiehlt sich der Umstieg auf öffentliche Verkehrsmittel.


Zur wettbewerbsrechtlichen Haftung für Affiliate-Partner -  I ZR 27/22

Karlsruhe, 26. Januar 2023 - Der unter anderem für das Wettbewerbsrecht zuständige I. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat entschieden, dass der Betreiber eines Affiliate-Programms nicht für die irreführende Werbung eines Affiliate-Partners haftet, wenn dieser im Rahmen eines eigenen Produkt- oder Dienstleistungsangebots tätig geworden ist und es deshalb an einer Erweiterung des Geschäftsbetriebs des Betreibers des Affiliate-Programms fehlt.


Sachverhalt: Die Klägerin ist eine Matratzenherstellerin. Die Beklagten sind Gesellschaften der Amazon-Gruppe und in unterschiedlichen Funktionen am Betrieb der Online-Verkaufsplattform "Amazon" beteiligt. Im Rahmen des von der Beklagten zu 1 betriebenen Amazon-Partnerprogramms steht es Dritten, sogenannten Affiliates, frei, auf der eigenen Webseite Links auf Angebote der Verkaufsplattform zu setzen.

Wird dadurch ein Verkauf vermittelt, erhält der Affiliate als Provision einen prozentualen Anteil am Kaufpreis. Im Jahr 2019 warb ein Affiliate auf seiner Webseite, die sich im weitesten Sinne mit den Themen Schlaf und Matratzen befasste und zumindest optisch einem redaktionellen Online-Magazin entsprach, unter anderem für Matratzen unter Verwendung von Links auf entsprechende Angebote auf der Verkaufsplattform.

Die Klägerin hält die Werbung des Affiliates für irreführend und hat die Beklagten, denen der Wettbewerbsverstoß ihres Affiliates gemäß § 8 Abs. 2 UWG zuzurechnen sei, auf Unterlassung in Anspruch genommen.

Bisheriger Prozessverlauf: Das Landgericht hat die Klage abgewiesen. Das Oberlandesgericht hat die Berufung der Klägerin zurückgewiesen. Die beanstandete Werbung sei zwar irreführend und daher wettbewerbswidrig. Die Beklagten hafteten für diesen Wettbewerbsverstoß des Affiliates aber nicht als Täter oder Teilnehmer. Auch die Voraussetzungen einer Haftung des Unternehmensinhabers für Beauftragte nach § 8 Abs. 2 UWG lägen nicht vor.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat die Revision der Klägerin zurückgewiesen. Der innere Grund für die Zurechnung der Geschäftstätigkeit des Beauftragten gemäß § 8 Abs. 2 UWG liegt vor allem in einer dem Betriebsinhaber zugutekommenden Erweiterung des Geschäftsbetriebs und einer gewissen Beherrschung des Risikobereichs durch den Betriebsinhaber.

Unter Berücksichtigung der Ausgestaltung des Amazon-Partnerprogramms sowie der beanstandeten Webseite des Affiliates fehlt es im Streitfall an einer solchen Erweiterung des Geschäftsbetriebs der Beklagten zu 1 und damit am inneren Grund der Zurechnung gemäß § 8 Abs. 2 UWG. Entwickeln Affiliates eigene Produkte oder Dienstleistungen - hier eine Internetseite mit redaktionell gestalteten Beiträgen zu den Themen Schlaf und Matratzen -, deren Inhalt sie nach eigenem Ermessen gestalten und zum Verdienst von Provisionen bei verschiedenen Anbietern einsetzen, ist die Werbung über den Affiliate-Link ein Teil des Produkts, das inhaltlich von den Affiliates in eigener Verantwortung und im eigenen Interesse gestaltet wird.

Die Links werden von ihnen nur gesetzt, um damit zu ihren Gunsten Provisionen zu generieren. Ein solcher eigener Geschäftsbetrieb eines Affiliates stellt keine Erweiterung des Geschäftsbetriebs der Beklagten zu 1 dar. Es fehlt im Streitfall auch an der für eine Haftung nach § 8 Abs. 2 UWG erforderlichen Beherrschung des Risikobereichs durch die Beklagte zu 1.

Der Affiliate wird bei der Verlinkung nicht in Erfüllung eines Auftrags beziehungsweise der mit Amazon geschlossenen Vereinbarung tätig, sondern im Rahmen des von ihm entwickelten Produkts und allein im eigenen Namen und im eigenen Interesse. Die Beklagte zu 1 musste sich einen bestimmenden und durchsetzbaren Einfluss auch nicht sichern, weil sie mit dem Produkt des Affiliates ihren Geschäftsbetrieb nicht erweitert hat.

Vorinstanzen: LG Köln - Urteil vom 20. Mai 2021 - 81 O 62/20 OLG Köln - Urteil vom 11. Februar 2022 - 6 U 84/21

Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 3 Abs. 1 UWG Unlautere geschäftliche Handlungen sind unzulässig. § 8 Abs. 1 Satz 1, Abs. 2 UWG (1) Wer eine nach § 3 oder § 7 unzulässige geschäftliche Handlung vornimmt, kann auf Beseitigung und bei Wiederholungsgefahr auf Unterlassung in Anspruch genommen werden. …

(2) Werden die Zuwiderhandlungen in einem Unternehmen von einem Mitarbeiter oder Beauftragten begangen, so sind der Unterlassungsanspruch und der Beseitigungsanspruch auch gegen den Inhaber des Unternehmens begründet.


Körperschaftsteuerminderungspotenzial II

Karlsruhe, 26. Januar 2023 - Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Übergangsregelung des § 36 Abs. 4 Körperschaftsteuergesetz (KStG) in der Fassung von § 34 Abs. 13f KStG in der Fassung des Jahressteuergesetzes 2010 (im Folgenden: § 36 Abs. 4 KStG) mit Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) teilweise unvereinbar ist.

Sie führt bei einer bestimmten Eigenkapitalstruktur zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial. Dieses unterfällt, soweit es im Zeitpunkt des Systemwechsels vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren realisierbar war, dem Schutzbereich von Art. 14 Abs. 1 GG. Der Eingriff in dieses Schutzgut ist nicht gerechtfertigt.

Nach dem bis Ende 2000 geltenden Anrechnungsverfahren wurden nicht ausgeschüttete steuerbare Gewinne von Körperschaften mit (zuletzt) 40 % Körperschaftsteuer belastet (Tarifbelastung). Kam es später zu Gewinnausschüttungen, reduzierte sich der Steuersatz auf (zuletzt) 30 % (Ausschüttungsbelastung). Für die Körperschaft entstand so ein Körperschaftsteuerminderungspotenzial in Höhe der Differenz zwischen Tarif- und Ausschüttungsbelastung, also in Höhe von zuletzt 10 Prozentpunkten.

Beim Anteilseigner erfolgte die Besteuerung der Ausschüttung mit dem individuellen Einkommensteuersatz des Steuerpflichtigen unter Anrechnung der von der Kapitalgesellschaft entrichteten Körperschaftsteuer. Nach dem Halbeinkünfteverfahren wird auf der Ebene der Körperschaft für Gewinne nur noch eine einheitliche und endgültige Körperschaftsteuer in Höhe von (seit 2008) 15 % erhoben. Auf der Ebene des Anteilseigners unterliegt der ausgeschüttete Kapitalertrag nur zur Hälfte (seit 2009 zu 60 %) der Einkommensteuer. § 36 KStG ist Teil der Übergangsvorschriften, die den Wechsel vom Anrechnungs- zum Halbeinkünfteverfahren regeln.

Danach wurden die unter dem Anrechnungsverfahren gebildeten, unterschiedlich mit Körperschaftsteuer belasteten und die nicht belasteten Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals in mehreren Schritten zusammengefasst und umgegliedert. Das in den verbleibenden belasteten Eigenkapitalteilen enthaltene Körperschaftsteuerminderungspotenzial wurde in ein Körperschaftsteuerguthaben umgewandelt, das während einer mehrjährigen Übergangszeit abgebaut werden konnte.

Bei der Verrechnung der nicht steuerbelasteten Teilbeträge des verwendbaren Eigenkapitals untereinander blieb der in § 30 Abs. 2 Nr. 4 KStG 1999 bezeichnete Teilbetrag des verwendbaren Eigenkapitals (EK 04), in dem offene und verdeckte Einlagen der Gesellschafter erfasst waren, unberücksichtigt. Dies führt in bestimmten Fällen zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial. Die davon betroffene Beschwerdeführerin wendet sich mit ihrer Verfassungsbeschwerde gegen auf § 36 Abs. 4 KStG beruhende finanzbehördliche und finanzgerichtliche Entscheidungen sowie mittelbar gegen die Vorschrift selbst.

Die Verfassungsbeschwerde ist begründet. § 36 Abs. 4 KStG ist mit Art. 14 Abs. 1 in Verbindung mit Art. 3 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar, soweit die Regelung zu einem Verlust von Körperschaftsteuerminderungspotenzial führt, weil sie den in § 30 Abs. 2 Nr. 4 KStG 1999 bezeichneten Teilbetrag des verwendbaren Eigenkapitals nicht in die Verrechnung der unbelasteten Teilbeträge einbezieht. Die Entscheidung ist mit 6:1 Stimmen ergangen.

 

Bundesgerichtshof entscheidet erneut über Revisionen im Musterfeststellungsverfahren zu Prämiensparverträgen - XI ZR 257/21

 

Karlsruhe, 24. Januar 2023 - Der u.a. für das Bank- und Kapitalmarktrecht zuständige XI. Zivilsenat des Bundesgerichtshofs hat mit Urteil vom 24. Januar 2023 erneut über Revisionen des Musterklägers, eines Verbraucherschutzverbands, und der Musterbeklagten, einer Sparkasse, gegen ein Musterfeststellungsurteil des Oberlandesgerichts Dresden über die Wirksamkeit von Zinsänderungsklauseln in Prämiensparverträgen entschieden.

Sachverhalt und bisheriger Prozessverlauf
Die beklagte Sparkasse schloss seit Anfang der 1990er-Jahre mit Verbrauchern sogenannte Prämiensparverträge ab, die eine variable Verzinsung der Spareinlage und ab dem dritten Sparjahr eine der Höhe nach - bis zu 50% der jährlichen Spareinlage ab dem 15. Sparjahr - gestaffelte verzinsliche Prämie vorsehen. In den Vertragsformularen heißt es u.a.: "Die Spareinlage wird variabel, z.Zt. mit …% p.a. verzinst." oder "Die Sparkasse zahlt neben dem jeweils gültigen Zinssatz, z.Zt. ...%, am Ende eines Kalender-/Sparjahres […]."

In den in die Sparverträge einbezogenen "Bedingungen für den Sparverkehr" heißt es weiter: "Soweit nichts anderes vereinbart ist, vergütet die Sparkasse dem Kunden den von ihr jeweils durch Aushang im Kassenraum bekannt gegebenen Zinssatz. Für bestehende Spareinlagen tritt eine Änderung des Zinssatzes, unabhängig von einer Kündigungsfrist, mit der Änderung des Aushangs in Kraft, sofern nichts anderes vereinbart ist."


Der Musterkläger hält die Regelungen zur Änderung des variablen Zinssatzes für unwirksam und die während der Laufzeit der Sparverträge von der Musterbeklagten vorgenommene Verzinsung der Spareinlagen für zu niedrig. Er verfolgt mit seiner Musterfeststellungsklage sieben Feststellungsziele. Mit diesen macht er die Unwirksamkeit der Zinsänderungsklausel, die Bestimmung eines Referenzzinssatzes und eines monatlichen Zinsanpassungsintervalls sowie die Verpflichtung der Beklagten geltend, die Zinsanpassungen nach der Verhältnismethode vorzunehmen.


Vorsicht,  juristischer Schachtelsatz:

Darüber hinaus möchte er festgestellt wissen, dass die Ansprüche der Verbraucher auf Zahlung von weiteren Zinsbeträgen frühestens ab der wirksamen Beendigung der Sparverträge fällig werden, dass mit der Kenntnis der Höhe der tatsächlich vorgenommenen Zinsgutschriften im Sparbuch keine den Verjährungslauf in Gang setzende Kenntnis oder grob fahrlässige Unkenntnis der den Anspruch auf Zahlung von weiteren Zinsbeträgen begründenden Umstände verbunden ist und dass die widerspruchslose Hinnahme der Zinsgutschriften im Sparbuch nicht dazu führt, dass das Umstandsmoment für eine Verwirkung der Ansprüche der Verbraucher auf Zahlung von weiteren Zinsbeträgen gegeben ist.

Das Oberlandesgericht hat der Musterfeststellungsklage teilweise stattgegeben. Der Musterkläger verfolgt seine Feststellungsziele mit der Revision weiter, soweit das Oberlandesgericht die Klage betreffend die Bestimmung eines Referenzzinssatzes und die Vornahme der Zinsanpassungen nach der Verhältnismethode abgewiesen hat.


Die Musterbeklagte verfolgt mit der Revision ihren Antrag auf vollständige Abweisung der Klage betreffend die Bestimmung eines Referenzzinssatzes weiter.


Entscheidung des Bundesgerichtshofs
Der Bundesgerichtshof hat seine - nach Erlass des hier angefochtenen Musterfeststellungsurteils des Oberlandesgerichts – mit Urteil vom 6. Oktober 2021 (XI ZR 234/20) ergangene Rechtsprechung in dem heute verkündeten Urteil bestätigt.

Dementsprechend hat er auf die Revision des Musterklägers das Musterfeststellungsurteil des Oberlandesgerichts aufgehoben, soweit dieses keinen für die Höhe der variablen Verzinsung maßgebenden Referenzzinssatz bestimmt hat. Insoweit hat er die Sache zur erneuten Verhandlung und Entscheidung an das Oberlandesgericht zurückverwiesen.

Darüber hinaus hat er entschieden, dass die Zinsanpassungen von der Musterbeklagten unter Beibehaltung des anfänglichen relativen Abstands des Vertragszinssatzes zum Referenzzinssatz (Verhältnismethode) vorzunehmen sind. Das Oberlandesgericht ist rechtsfehlerhaft davon ausgegangen, es könne einen Referenzzinssatz deswegen nicht im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung bestimmen, weil im Verfahren über die Musterfeststellungsklage nicht auszuschließen sei, dass einzelne Sparverträge individuelle Vereinbarungen enthielten.

Solche Individualvereinbarungen sind nur in den Klageverfahren zwischen den Verbrauchern und der Musterbeklagten zu berücksichtigen und schließen die Bindungswirkung des Musterfeststellungsurteils nach § 613 Abs. 1 ZPO, nicht aber die Vornahme einer ergänzenden Vertragsauslegung im Musterfeststellungsverfahren aus.

Da das Oberlandesgericht - von seinem rechtlichen Standpunkt aus folgerichtig - bislang keine Feststellungen zu einem geeigneten Referenzzinssatz getroffen hat, wird es dies nach Zurückverweisung des Musterverfahrens nachzuholen haben. Nach dem Konzept der auf ein langfristiges Sparen angelegten Sparverträge ist es interessengerecht, als Referenz für die Verzinsung der Spareinlagen einen Zinssatz oder eine Umlaufrendite mit langer Fristigkeit heranzuziehen.

Bei der Bestimmung des Referenzzinssatzes wird das Oberlandesgericht außerdem zu berücksichtigen haben, dass es sich bei den Sparverträgen um eine risikolose Anlageform handelt. Nach der vom Senat vorgenommenen ergänzenden Vertragsauslegung ist bei den Zinsanpassungen der anfängliche relative Abstand des Vertragszinssatzes zum Referenzzinssatz beizubehalten. Nur eine solche Auslegung gewährleistet, dass das Grundgefüge der Vertragskonditionen über die gesamte Laufzeit der Sparverträge erhalten bleibt, so dass günstige Zinskonditionen günstig und ungünstige Zinskonditionen ungünstig bleiben.


Dass sich die absolute Zinsmarge der Musterbeklagten bei Anwendung der Verhältnismethode im Fall eines Anstiegs des Referenzzinssatzes erhöht und im Fall eines Absinkens des Referenzzinssatzes reduziert, verstößt nicht gegen die Grundsätze des Preisanpassungsrechts, weil die Musterbeklagte keinen Einfluss auf die Höhe der Zinsanpassungen hat.


Das Oberlandesgericht wird erneut über die in einem Eventualverhältnis stehenden Anträge des Musterklägers betreffend den Referenzzinssatz zu entscheiden und dabei mit sachverständiger Hilfe im Wege der ergänzenden Vertragsauslegung einen Referenzzinssatz zu bestimmen haben.

Dabei wird es zu bedenken haben, dass zur Verfahrensbeschleunigung gemäß § 411a ZPO ein bereits erstelltes Sachverstän-digengutachten dann verwertet werden kann, wenn es in einem anderen Gerichtsverfahren eingeholt worden ist.

Vorinstanz: OLG Dresden - Musterfeststellungsurteil vom 31. März 2021 - 5 MK 2/20 Die maßgeblichen Vorschriften lauten: § 411a ZPO Die schriftliche Begutachtung kann durch die Verwertung eines gerichtlich oder staatsanwaltschaftlich eingeholten Sachverständigengutachtens aus einem anderen Verfahren ersetzt werden.

§ 613 Abs. 1 Satz 1 ZPO (1) Das rechtskräftige Musterfeststellungsurteil bindet das zur Entscheidung eines Rechtsstreits zwischen einem angemeldeten Verbraucher und dem Beklagten berufene Gericht, soweit dessen Entscheidung die Feststellungsziele und den Lebenssachverhalt der Musterfeststellungsklage betrifft.


Anhebung der „absoluten Obergrenze“ für die staatliche Parteienfinanzierung ist verfassungswidrig

Karlsruhe, 24. Januar 2023 - Mit heute verkündetem Urteil hat der Zweite Senat des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Erhöhung des jährlichen Gesamtvolumens staatlicher Mittel für die Finanzierung politischer Parteien auf 190 Millionen Euro mit Art. 21 Abs. 1 Satz 1 des Grundgesetzes (GG) unvereinbar und damit nichtig ist.

Mit ihrem Normenkontrollantrag wenden sich 216 Mitglieder des 19. Deutschen Bundestages aus den Fraktionen von FDP, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und DIE LINKE gegen Art. 1 des Gesetzes zur Änderung des Parteiengesetzes und anderer Gesetze vom 10. Juli 2018 (PartGuaÄndG 2018), durch den das jährliche Gesamtvolumen staatlicher Mittel, das allen politischen Parteien im Wege der staatlichen Teilfinanzierung höchstens ausgezahlt werden darf (sogenannte „absolute Obergrenze“), für die im Jahr 2019 vorzunehmende Festsetzung auf 190 Millionen Euro angehoben wurde.

Die angegriffene Norm verfehlt die verfassungsrechtlichen Vorgaben für die staatliche Parteienfinanzierung. Sie verstößt gegen den Grundsatz der Staatsfreiheit der Parteien, weil der Gesetzgeber im Gesetzgebungsverfahren nicht ausreichend dargelegt hat, dass der zusätzliche, aus eigenen Mitteln nicht aufzubringende Finanzbedarf der politischen Parteien eine Anhebung der absoluten Obergrenze der staatlichen Parteienfinanzierung um knapp 25 Millionen Euro erfordert.

Die Entscheidung ist mit Blick auf die letztlich offen gelassene Frage, ob die angegriffene Vorschrift formell ordnungsgemäß zustande gekommen ist, mit 6:1 Stimmen und im Übrigen einstimmig ergangen.

Unzulässige Verfassungsbeschwerde gegen das gesetzgeberische Unterlassen der Einführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen
Karlsruhe, 17. Januar 2023 - Die 3. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts hat mit heute veröffentlichtem Beschluss eine Verfassungsbeschwerde mangels ausreichender Begründung nicht zur Entscheidung angenommen, mit welcher sich die Beschwerdeführenden gegen die Klimaschutzgesetzgebung der Bundesrepublik und insbesondere gegen die Nichteinführung eines allgemeinen Tempolimits auf Bundesautobahnen richteten.

 

Erfolgreiche Verfassungsbeschwerde einer Zeitungsherausgeberin gegen die gerichtliche Untersagung einer Meinungsäußerung
Achtung: Gerichtliche Formulierung:
Bundesverfassungsgericht Karlsruhe, 13. Januar 2023 - Mit heute veröffentlichtem Beschluss hat die 1. Kammer des Ersten Senats des Bundesverfassungsgerichts entschieden, dass die Beschwerdeführerin – Herausgeberin einer Tageszeitung – in ihrer Meinungs- und Pressefreiheit aus Art. 5 Abs. 1 des Grundgesetzes (GG) verletzt ist, indem ihr die Äußerung „Den Staat lehne [der Antragsteller] (…) ab“ mit der Begründung gerichtlich untersagt wurde, dass für diese Meinung kein Mindestbestand an tatsächlichen Anknüpfungstatsachen festzustellen sei.

Die Berichterstattung betrifft einen Beitrag über eine aus Sicht ehemaliger Mitglieder sektenähnliche Gemeinschaft, der der Antragsteller des Ausgangsverfahrens vorstehe.

 

Eilverfahren gegen Allgemeinverfügung zur Räumung von Lützerath erfolglos
Oberverwaltungsgericht Münster, 09. Januar 2023 - Die Allgemeinverfügung des Landrats des Kreises Heinsberg zur Räumung der Ortslage Lützerath vom 20. Dezember 2022 hat weiterhin Bestand. Das darin ausgesprochene Aufenthalts- und Betretensverbot ist voraussichtlich rechtmäßig. Dies hat heute das Oberverwaltungsgericht entschieden und damit einen Eilbeschluss des Verwaltungsgerichts Aachen bestätigt.

Der Landrat des Kreises Heinsberg hat mit Allgemeinverfügung vom 20. Dezember 2022 für konkret bezeichnete Flächen der Ortschaft Lützerath den Aufenthalt, das Betreten und Befahren bis zum 13. Februar 2023 untersagt und darauf hingewiesen, dass ab dem 10. Januar 2023 mit Maßnahmen der Verwaltungsvollstreckung durch Ausübung von unmittelbarem Zwang zu rechnen sei.

Die Antragstellerin, die dort für das Bündnis „Die Kirche im Dorf lassen“ Mahnwachen veranstaltet, sieht sich hierdurch in ihren Rechten verletzt und beantragte beim Verwaltungsgericht Aachen vorläufigen Rechtsschutz. Die Antragstellerin machte im Wesentlichen geltend, der Landrat sei für den Erlass der Allgemeinverfügung nicht zuständig gewesen. Auch gebe es für einen mehrwöchigen Platzverweis keine Rechtsgrundlage.

Der Kreis Heinsberg habe zudem ermessensfehlerhaft gehandelt und die Rechtspositionen der vom Platzverweis betroffenen Personen nicht hinreichend berücksichtigt. Das Verwaltungsgericht lehnte den Antrag ab. Die gegen diese Entscheidung eingelegte Beschwerde der Antragstellerin ist ohne Erfolg geblieben. Zur Begründung seiner Entscheidung hat der 5. Senat des Oberverwaltungsgerichts ausgeführt: Die Allgemeinverfügung ist bei vorläufiger Prüfung rechtmäßig.


Der Landrat durfte sie erlassen, nachdem der Bürgermeister der Stadt Erkelenz ein Einschreiten endgültig abgelehnt hatte. Der Platzverweis ist vom nordrhein-westfälischen Polizeiund Ordnungsrecht gedeckt. Der unberechtigte Aufenthalt von Personen auf den betroffenen Flächen ist ohne Einwilligung der berechtigten RWE Power AG zivilrechtlich  rechtswidrig und stellt damit eine Gefahr für die öffentliche Sicherheit dar.

Soweit die Antragstellerin mit der Beschwerde erstmals vertragliche (Betretens-) Rechte für Teilflächen auf dem Gelände behauptet, ist dies nicht glaubhaft gemacht. Die sich in Lützerath aufhaltenden Personen können sich außerdem nicht auf einen Rechtfertigungsgrund des „zivilen Ungehorsams“ berufen. Das staatliche Gewaltmonopol als Grundpfeiler moderner Staatlichkeit ist einer Relativierung durch jegliche Formen des zivilen Ungehorsams grundsätzlich nicht zugänglich.

Zur Beendigung des Rechtsverstoßes durfte der Platzverweis angeordnet werden; die zulässige Dauer eines Platzverweises nach dem nordrhein-westfälischen Polizeigesetz („vorübergehend“) ist von der im Einzelfall konkret in Rede stehenden Gefahr abhängig. Auf die Frage, ob die Allgemeinverfügung auch mit einer Gewährleistung der Energieversorgungssicherheit gerechtfertigt werden kann, kommt es nicht an, weil bereits der Schutz der Rechtspositionen der im Verfahren beigeladenen RWE Power AG den Platzverweis trägt.

Der Beschluss ist unanfechtbar.
 Aktenzeichen: 5 B 14/23 (I. Instanz: VG Aachen 6 L 2/23)

Verfassungsbeschwerden gegen Versammlungsgesetz NRW eingegangen Verfassungsgerichshoft Münster, 4. Januar 2023 - Mehrere Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer haben Verfassungsbeschwerde gegen das Versammlungsgesetz NRW (VersG NRW) eingelegt. Die Beschwerdeführer im Verfahren VerfGH 117/22.VB-2 sehen sich durch das Versammlungsverbot auf Autobahnen in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit verletzt.

Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer im Verfahren VerfGH 3/23.VB-1 beanstanden neben dem Versammlungsverbot auf Autobahnen auch das Störungsverbot, die Vorschrift über Aufnahmen und Aufzeichnungen von Bild und Ton, das Vermummungs- und Schutzausrüstungsverbot und das Gewalt- und Einschüchterungsverbot sowie daran anknüpfende Straf- bzw. Ordnungswidrigkeitentatbestände.


Sie sehen sich in ihrem Grundrecht der Versammlungsfreiheit und auf informationelle Selbstbestimmung verletzt. Die Beschwerdeführerinnen und Beschwerdeführer im Verfahren VerfGH 3/23.VB-1 haben zugleich einen Antrag auf Erlass einer einstweiligen Anordnung gestellt (VerfGH 4/23.VB-1).

VerfGH 117/22.VB-2  - VerfGH 3/23.  - VB-1 VerfGH 4/24.VB-1