Duisburg, 4. Mai 2025 - Die Geschichte der Plaggenhütten in
der Bönninghardt geht auf die Migration protestantischer
Siedler aus der Pfalz zurück. Da diese Pfälzer in ihrer
Heimat zwischen Simmern und Bad Kreuznach religiöser
Verfolgung ausgesetzt waren oder ihre Lebensgrundlage
aufgrund vieler Missernten verloren, beschlossen sie Mitte
des 18. Jahrhundert nach Amerika auszuwandern. Entlang des
Niederrheins sollte die Reise über Amsterdam in die Neue
Welt führen – allerdings fand dieses abenteuerliche
Unterfangen ein jähes Ende bei Schenkenschanz unweit von
Kleve, denn da tobte bereits der Krieg zwischen den
Niederlanden und England. Geldnot machte sich breit unter
den Pfälzern, viele gründeten die bis heute existenten
protestantischen Enklaven am tiefkatholischen Niederrhein,
nämlich Pfalzdorf, Louisendorf und Neu-Louisendorf bei Goch.
Andere verschlug es zurück auf die Bönninghardt, eine
Landschaft, die durch den Ausläufer einer Endmoräne in der
Eiszeit entstanden ist und an höchsten Punkten etwa 45 Meter
über dem Meeresspiegel ragt. Mitte des 18. Jahrhunderts war
dieser Höhenzug noch nicht besiedelt, nur umliegende Bauern
aus Alpen nutzten das Terrain als Viehweide.
Doch
auch hier waren die Lebensbedingungen ungünstig, in einer
trostlosen Heidelandschaft fanden die neuen Siedler
unfruchtbare Sandböden vor, die erstmal über einen längeren
Zeitraum hätten für den Ackerbau urbar gemacht werden
müssen. Die inzwischen gänzlich mittellosen Menschen
brauchten Behausungen, so beschlossen sie diese um 1770 aus
einfachsten Materialien, die die Bönninghardter Heide
lieferte, zu bauen: es entstanden die ersten Plaggenhütten.
Anhand von frühen Fotos und überlieferten Aufzeichnungen des
um 19. Jahrhundert wirkenden Pastors Johannes Sanders hatte
die 'Interessengemeinschaft für Geschichte und Natur'
erstmalig 2002 eine Plaggenhütte mit zugehörigem Ziegenstall
originalgetreu aufgebaut. Federführend war dabei der
ehemalige Schulleiter Johannes „Chang“ Schmitz.
Wir treffen den umtriebigen Hobby-Historiker und den
Ortsvorsteher der Gemeinde, Herbert Oymann, noch in der gut
klimatisierten Wohnküche seines Hauses bei Kaffee und
selbstgemachten Muffins. „Gleich werden Sie andere
Räumlichkeiten vorfinden, da wird es feuchter und zugiger
sein“, flachst der 75-jährige Lokalpolitiker. Denn im
Anschluss an den Kaffee werden wir zu den spartanischen
Behausungen marschieren. Dass es dort „zieht“, ist nicht
verwunderlich, denn die Plaggenhütte und der Stall sind aus
Baumstämmen für das Grundgerüst, Plaggen (ausgestochene
Grasnarben), die als Ziegel für die Außenwände verwendet
werden, Reisig und Ginster für die Dachabdeckungen, gebaut.
Und außerdem sind die Außenwände noch nicht geschlossen zu
dem Zeitpunkt: es sieht so aus, als ob die Hütte
überdimensional große Fenster hätte.
Ein umtriebiger Tausendsassa, der fest im Gemeindeleben
verankert ist: Johannes „Chang“ Schmitz!
Er gilt als unermüdlich, auch mit seinen 91 Jahren.
„Chang“ Schmitz' sämtliche Machenschaften hier aufzulisten
ist nahezu unmöglich. Als „Zugezogener“ war er lange
Dorfschullehrer in Veen und der Bönninghardt, sorgte in den
1970er-erJahren mit seiner Reformpädagogik für neue Ideen im
Schulsystem, seine „Freiarbeit“ im Unterricht galt als
wegweisend. Er ist der Urvater der Bönninghardter Jugend
(JuBo) und setzte sich mit großem Engagement für den Bau des
am Niederrhein bekannten Waldspielplatzes ein, der am 2.
Juni 1973 feierlich eröffnet wurde. Schmitz leitete lange
die Geschicke der 'Interessengemeinschaft für Geschichte und
Natur', auf deren Betreiben auch die Plaggenhütten gebaut
wurden. Er ist in der katholischen Gemeinde St. Vinzenz
engagiert und stand dem Pfarrgemeinderat dort voran. Sein
Hobby sind das Singen und Gitarrenspiel, er ist immer noch
im Kirchenchor aktiv und gehört der Künstlergemeinschaft
Alpen an. 2000 bekam er das Bundesverdienstkreuz und 2009
wurde er mit dem Rheinlandtaler ausgezeichnet.
Warum aber machen sich die beiden die Mühe mit der
aufwendigen Rekonstruktion der alten Hütte? „Wat für de
Kölner ihr Dom is, is für de Bönninghardter ihre
Plaggenhütt'“, sagt Johannes Schmitz mit Kölschem
Zungenschlag. Der 91-Jährige setzt sich sehr für das
lokale Brauchtum ein und hat ein reges Interesse an der
Geschichte der Gemeinde. Das kommt nicht von ungefähr:
„Chang“ Schmitz durchlief Mitte der 1950er-Jahre das Studium
zum Lehrer an der Pädagogischen Akademie in Köln und
arbeitete lange an den Dorfschulen in Veen und Bönninghardt.
Er war in den 70er-Jahren bekannt für seine offene
Unterrichtsgestaltung, die sich an dem Gedankengut der
Reformpädagogik des 18. Jahrhunderts orientierte.
„Ich wollte immer Kinder für Geschichte begeistern“, sagt
er. Teils unterrichtete er Schüler vom 1. Jahrgang bis zum
8. Jahrgang gemeinsam in einem Schulraum. Vielleicht ist
auch eine Antriebsfeder für sein lokalhistorisches
Engagement, dass sich „Chang“ Schmitz anfangs selbst
irgendwie als „Migrant“, ja fast wie ein damals
zugewanderter Pfälzer, im Dorfe fühlte, denn er stammt
gebürtig aus der Gemeinde Asbach im Westerwald. Jedenfalls
war es mehr Fügung, dass er in der Bönninghardt landete.
„Einer von drei frisch ausgebildeten Lehrern aus dem Kölner
Seminar musste damals an den Niederrhein wegen
Lehrermangels“, sagt das Urgestein verschmitzt. „Er iss en
tu trockene (ein Zugezogener)“, scherzt Herbert Oymann in
niederrheinischem Platt über ihn, und wir lachen.
Doch zurück zur Lokalgeschichte: „Die Hütten sind eben unser
Aushängeschild, stammen aus der Zeit, in der unsere ersten
Siedller unter widrigsten Bedingungen hier hausten“, erklärt
uns Herbert Oymann. „Die meisten Pfälzer verdingten sich
damals als Besenbinder und hausierten mit ihren auf
Schubkarren gehäuften, gebundenen Besen von Haus zu Haus.
Sie galten für die ansässige Bevölkerung in Alpen und Issum
oft als unangenehme Gesellen.“ Auch weil sie der Erzählung
nach abends gequält vom Hunger bei den anrainenden
Dorfbewohnern Alpens um deren Essensreste bettelten. In
Straßennamen wie „Besenbinderweg“ wird in der Gemeinde noch
heute an sie erinnert.
Zweimal haben Johannes
Schmitz und seine Mitstreiter die Plaggenhütten schon
aufgebaut, einmal seien sie bei einem Brand zerstört worden,
ein anderes Mal unterlagen sie dem widrigen Wetter vom
Niederrhein. „Die Dachkonstruktion aus Ginster und
Reisig war am Ende total durchlässig und es regnete herein,
so dass auch die gesamte Statik dahin war“, berichtet uns
Ortsvorsteher Oymann. Anfang 2024 hat Johannes „Chang“
Schmitz mit dem neu gegründeten 'Bönninghardter Förderverein
für Naturschutz und Brauchtum' den dritten Versuch begonnen
- und jetzt soll es perfekt werden. Vormalige Fehler beim
Aufbau sollen dieses Mal ausgeräumt werden.
Gut vernetzt in Wirtschaft und Politik – Herbert Oymann!
Als gelernter Industriekaufmann war
er mehr als 30 Jahre als Personalleiter für zwei Unternehmen
in der Alpener Umgebung tätig. 25 Jahre war er Mitglied im
IHK-Prüfungsausschuss für „Industriekaufleute“. Von 1999 bis
2020 engagierte sich Oymann in der Alpener CDU-
Ratsfraktion, ab 2018 ist er Ortsvorsteher von Bönninghardt,
somit ist er bestens vernetzt im Dorf. Sein Credo: Ein
„schönes Dorf mit Zukunft“ braucht engagierte und zupackende
Menschen, die mit umsetzbaren Ideen und Enthusiasmus an der
Gestaltung des Dorfes und seiner Gemeinschaft mitarbeiten.
„Wir haben die Eckpfeiler in Schotter
eingelassen, so dass sie fest verankert im Erdreich sind,
nicht wegfaulen und nicht weggeschwemmt werden können.
Außerdem haben wir eine Teichfolie im Dach verbaut, um die
Dichtigkeit zu gewährleisten“, gesteht Herbert Oymann. Das
sind Baumaterialien, die die ersten Siedler natürlich noch
nicht zur Hand hatten.
Es gibt Schwarz-Weiß-Fotos
von 1896, die mit einer Plattenkamera aufgenommen wurden.
Die hat Johannes Schmitz genauer unter die Lupe genommen, um
eine erste Bauskizze fertigen zu können. Der ehemalige
Lehrer zeigt uns die Bilder auf der Webseite des Vereins am
Laptop.
„Auf den alten Fotos ist die sogenannte
Focken-Agnes, eine kleine alte Frau, vor einer der letzten
Hütten abgebildet“, weiß „Chang“ Schmitz. „Ich habe die Höhe
der Hütte in Abhängigkeit der Größe der Frau dann für die
Bauskizze abgeleitet.“ Somit haben die beiden
Behausungen ihren höchsten Punkt zwischen 2,40 Meter und
2,60 Meter. Die Wohnfläche einer Hütte liegt bei etwa 15
Quadratmetern. Dabei sind kleinere Baumstämme mit einem
maximalen Durchmesser von 15 Zentimetern verbaut worden, um
die Statik herzustellen.
„Es eignen sich besonders
Tannen, Douglasien und Kastanien für die Dachträger und
Planken, da waren natürlich einige Genehmigungen für das
Fällen der Bäume durch das Forstamt notwendig“, berichtet
Oymann. Und mit „de platte Schüpp“, einem Spaten, habe man
die Plaggen, also die 60 mal 40 Quadratzentimeter großen
Grasnarben, in einer großen Gemeinschaftsaktion aus dem
Boden gestochen – neuerdings häufig aus einem Feld unweit
des Veener Friedhofs. „Dort ist der Lehmanteil besonders
hoch und somit ist eine hohe Stabilität beim Verbauen der
Grasziegel garantiert“, konstatiert Oymann. Auch für das
Schneiden des Ginsters mussten sie Erlaubnis einholen. „Wir
haben dann mit einer selbst erfundenen
Ginsterpuppenbindemaschine mit vielen Helfern das
Füllmaterial für die Dächer gefertigt“, so Oymann. Bis zu 30
Ehrenamtler aus allen Gewerken haben mit ihren Traktoren,
Maschinen und Muskelkraft das Bauvorhaben unterstützt.
„Diese Aktion wird von allen Einwohnern mitgetragen und
fördert die dörfliche Gemeinschaft“, weiß Oymann. „Eine
junge Frau hat sogar mit ihrem Kind in der Hütte im letzten
Sommer übernachtet – dafür haben wir beide unseren Gästen am
nächsten Morgen Frühstück an die Feuerstelle gebracht“,
sagt Herbert Oymann, der in Wurfweite zu den Hütten wohnt.
Um die Plaggenhütten quasi als Freilichtmuseum
originalgetreu erscheinen zu lassen, suchen die beiden noch
Werkzeuge aus der alten Zeit. Eine alte Egge, eine rostige
Schleifmaschine, und ein kupferner Topf über der Feuerstelle
befinden sich bereits neben der archaischen Behausung und
vermitteln einen ersten Eindruck über die harten Arbeits-
und Lebensbedingungen der ersten Pfälzer Siedler...
Zeittafel der Plaggenhütte auf der Hei
2002 Bau der ersten Plaggenhütte mit Stall
durch die damalige 'Interessengemeinschaft für Geschichte
und Natur' 2005 Zerstörung durch
Brand, Wiederaufbau 2010 Abriss nach totaler
Verwitterung 2011 An anderer Stelle auf dem
Grundstück der katholischen Kirche St. Vinzenz Neubau der
zweiten Plaggenhütte nun durch den
'Bönninghardter Förderverein für Naturschutz und Brauchtum'
2018 Teilabriss mit Einbau
neuer Grasplaggen und Dachreparaturen 2024/2025 Neubau
der Plaggenhütte und Stallung, einschl. Dacherneurung mit
verbessertem Witterungsschutz
Der
Räuber Wilhelm Brinkhoff Er gilt als
„Schinderhannes vom Niederrhein“ und so manche Legende
befasst sich mit ihm. 1839 in Alpen geboren als Sohn des
Tagelöhners Jakob Brinkhoff begann er mit 15 Jahren eine
Tischlerlehre, bei der er seinem Lehrherrn die Einnahmen aus
der Kasse stahl. Er wurde zum Kleinkriminellen am
Niederrhein. Brinkhoff entwickelte sich zur Neuauflage eines
„Robin Hood“, indem er die Reichen beraubte, um es den Armen
zu geben, für die er Sympathie empfand. Auf seinen Raubzügen
war er immer allein und gehörte keiner Bande an. Nach seinen
Missetaten suchte er oft Unterschlupf auf der Bönninghardt
bei den in ständiger Armut lebenden Pfälzer Kolonisten, mit
denen er die Beute aus seinen Diebstählen teilte. 1858
wanderte er kurzfristig nach Amerika aus und gelangte über
den Handel mit Pelzen zu Reichtum, der aber schnell
verbraucht war. Zurück am Niederrhein wurde er 1860 von den
Behörden aufgespürt und zu 16 Jahren Zuchthaus in Kleve auf
der Schwanenburg verurteilt. Es gelang ihm aber die Flucht
aus dem Gefängnis. Seine Spuren am Niederrhein verliefen
sich, erneut soll es ihn nach Amerika gezogen haben ...
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